vonDetlef Berentzen 02.07.2018

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

Mehr über diesen Blog

Man erzählt sich viel von der freiheit
zum beispiel dass sie der welt fremd geworden sei
sie sei nicht dort wo man sie sucht
ihr flaschen die freiheit sitzt entweder im gefängnis
oder liegt gebündelt in brieftaschen
(thorwald proll)

 

 

An die Tübinger Bürger. Sie hatten es eilig gestern nachmittag. Sie waren müde von der Arbeit, und wir, die Studenten, haben Sie eine halbe Stunde lang gewaltsam aufgehalten. Sie wollten Ihren Weg gehen, und wir sollten den unseren gehen. Aber in diese Gleichgültigkeit haben wir Ärger gebracht, den Sie für überflüssig halten. (…) Sie arbeiten den ganzen Tag, und wenn Sie nach Hause kommen, sind Sie zu müde, um noch viel und lange über Vietnam nachlesen zu können. Und ist es verwunderlich, daß Zeitungen, die im Privatbesitz weniger reicher Leute sind, verschweigen, daß andere, reiche Konzern-Herren auch in der Bundesrepublik Chemikalien und Waffenteile für den Vietnam-Krieg der USA herstellen? Die Konzernherren verdienen gut, verdecken gegenseitig ihre Geschäftemachereien. Gerade weil wir Studenten Zeit haben und weil wir wissen, daß wir auch auf Ihre Kosten leben, sind wir verpflichtet, Ihnen auch solche Dinge mitzuteilen, die Ihnen kein Chef gerne mitteilt. Die gleichen Herren haben schon einmal die Wahrheit ihrer Geschäfte wegen verschwiegen und uns in einen schmutzigen Krieg gestürzt. DAS WOLLEN WIR VERHINDERN – DESHALB GEHT UNS VIETNAM AN.Wir wollten, daß Sie aufhorchen: den Anlaß Ihres Ärgers gaben wir, aber den Grund ihres Ärgers lieferten die Kriegsmacher, gegen diese sollten wir all unseren Ärger und gemeinsamen Widerstand richten. Um dies klarzustellen, mußten wir erst die Gleichgültigkeit zwischen uns und Ihnen beseitigen. (SDS Tübingen, 1968)

Im autoritären Staat der finalen 60er steht den antiautoritären Rebellen alles zur Disposition, auch die Protagonisten der „bürgerlichen Literatur“. Man rückte bereits 1967 (anläßlich der letzten Tagung der „Gruppe 47“ in der Pulvermühle) angeblich konterrevolutionären AutorInnen zu Leibe. Nicht ohne Sympathie. Und die AutorInnen bleiben gelassen.

Die Unruhe der Jugend ist berechtigt. Wir fordern die politischen Parteien auf, die vielfältigen Ursachen dieser Unruhe endlich zu begreifen und ihre Berliner Vertreter daran zu erinnern, welcher demokratischen Aufgaben diese Stadt verpflichtet ist. Unser Grundgesetz spricht eine deutliche Sprache.….(Nicolas Born, Günter Grass, Peter härtling, Helmut Heissenbüttel, Alexander Kluge, Hans Werner Richter, Wolfdietrich Schnurre u.a.)

 

 

Als Alfred Jarry merkte, daß seine Mutter eine Jungfrau war, bestieg er sein Fahrrad. Mitunter Polen und was mir gefällt, erbaut aus Pappmaché, an einem Mercredi, dem Spinnenhimmel, eins, zwei, drei, ein Tandem im Delirium, ein Sporttrikot, dem Mittelscheitel, tja, sagt die Welt und geht zu Fuß zugrunde, was mir gefällt, gefällt mir ohne Welt, und irgendwo im Spaß reift eine dicke Birne Ewigkeit. (Wolf Wondratschek)

Wondratschek, der später genau wissen wird, daß früher der Tag mit einer Schußwunde begann, erhält in Darmstadt, 23-jährig, den neu gestifteten „Leonce-und-Lena-Preis“ – hochartifizieller Beleg dafür, daß junge Dichtung nicht nur als dumpfer Agit-Prop daherkommen muß. Gleichwohl, in seiner Dankesrede hatte Wondratschek zuvor, festlich garniert von Gladiolen, heftig gegen die geplanten Notstandsgesetze polemisiert und mit einem Zitat von Büchner blank gezogen:


Valerio: So wollen wir nützliche Mitglieder der Gesellschaft werden! – Leonce: Lieber möchte ich meine Demission als Mensch geben!

Nur schade, dass die revolutionären jungen Herren nicht auf dem Kopf gehen konnten. Doch alle hören die Signale. Viele zumindest. Weltweit. Also lohnt es sich, nicht ohne Lederjacke aus dem Haus zu gehen.

 

Sieh einmal, hier steht er,
pfui der Struwwelpeter,
schneiden ließ er nicht sein Haar
nun schon fast ein ganzes Jahr.
Pfui, ruft da manch Blöder:
Garstger Struwwelpeter!
Blöde gibt es viele
am Rhein und auch am Nile.
(FK Waechter)

In Frankfurt/Main wurde der erste Kinderladen Ende 1967 von der Tochter Alexander Mitscherlichs, Monika Seifert, gegründet. In Westberlin kam die Initiative Anfang 1968 von engagierten Frauen wie Helke Sander, Marianne Herzog u.a., die kurz darauf den“ Aktionsrat zur Befreiung der Frau“ ins Leben riefen. Auch in Stuttgart gründeten Pädagogen und Eltern im gleichen Jahr einen „nicht-autoritären“ Kinderladen – Ziel: „Überwindung von Isolation und Bewältigung von Aggression, um solidarisierungsfähig sein zu können“. Verbunden mit der im Radio verbreiteten Hoffnung: „Es wird immer mehr Eltern geben, die nicht zur alten Moral, sondern zur neuen Freiheit erziehen!“ („Für junge Leute“, SWF)

Es war ein wilder Aufbruch, ein provozierender, ungestümer, einer mit biographisch motivierter Wut, gehörigem Omnipotenzwahn, auch mit fatalem männlichen Ideologiegesülze (Helke Sander: „Genossen, Eure Veranstaltungen sind unerträglich!“) und „traumatisierenden Folgen“ (Horst Petri), Aber er war bitter und notwendig, dieser Ansturm gegen die rigiden Ordnungssysteme der autoritären, gewalttätigen Erziehungssysteme. Und letztendlich erfolgreich. Später ließen sich selbst im Ostberlin der beginnenden 80er-Jahre sich Mütter wie Ulrike Poppe inspirieren und gründeten am Kollwitzplatz einen Kinderladen,…der nach drei Jahren auf Weisung von oben zugemauert wurde.

So widersprüchlich, krachledern, fröhlich-anarchisch und mitunter wüst ideologisch die soziale Bewegung der Kinderläden in ihren Anfängen auch war (sein mußte?), die kritischen Pädagogen und die Kinderladeneltern der 60er und 70er-Jahre bilden im Rückblick die Avantgarde für jene moderne Erziehung, die heute mit „situativem Ansatz“ und „Gewaltfreiheit“ ganz selbstverständlich Grundlage für den Bildungsauftrag von Krippen und Kindertagesstätten ist. Und markiert den Beginn der neuen Frauenbewegung.

Kotzen wir’s öffentlich aus: Wir sind penisneidisch, frustriert, hysterisch, verklemmt, asexuell, lesbisch, frigid, zukurzgekommen, irrational, lustfeindlich, hart, viril, spitzig, zickig, wir kompensieren, wür überkompensieren, sind penisneidisch, sind penisneidisch. Penisneidisch. Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen…(Weiberrat Frankfurt)

 

Die bürgerlichen Schwänze sammeln sich derweil zur “sexuellen Revolution”. Wer zweimal mit der selben, Establishment und überhaupt. Raus aus den Ehekontrakten und Kuppeleiparagraphen, der Furor der außerehelichen Erektion treibt stramm Richtung Anarchie, …was längst nicht für alle gilt. Auch nicht für Dieter S. aus Stuttgart. Er will heiraten. Und zwar nur diese eine, die Genossin AStaVorsitzende aus Berlin, deren Foto er im Magazin „Spiegel“ gesehen hat. Abgeführt hat man sie, nach einer Rektoratsbesetzung. Mit klopfendem Herzen schreibt er an Fräulein Fronius einen Brief:

 

Liebe Sigrid! Hiermit erlaube ich mir, Dir einen Heiratsantrag zu machen. Einzige Voraussetzung ist natürlich, daß wir uns nach Bekanntwerden gut verstehen und gegenseitig leiden können. Als engagierte junge Dame gehörst Du zu denen, die man als linksorientierte Intelektuelle bezeichnet. Das setzt Aufgeschlossenheit, modernes, anti-autoritäres und anti-spießerisches Denken voraus. Falls Du noch nicht daran denkst zu heiraten, würde ich mich auch über eine Bekanntschaft freuen. (Brief von Dieter S. an die Berliner AStA-Vorsitzende Sigrid Fronius)

Wir wär’n gern gut anstatt so roh, doch die Verhältnisse sind nicht so! All die Roten werden vom Osten bezahlt. Klar doch! Das wussten Mutter Krause und die Studenten der CDU schon immer: Alles Osten! Und FakeNewz.

Der Terror der Linksradikalen, die den Asta und den Konvent besetzt halten, hat nicht davor zurückgeschreckt, während der Urabstimmung unsere Anschläge abzureissen und so die Meinungsfreiheit zu unterdrücken. Noch herrschen Gesetz und Ordnung in Westberlin! Wissen Sie weshalb die Telefonrechnungen des Asta so hoch sind? Der Vorsitzende telefoniert zu oft nach Bern und Ostberlin.Vor jeder Demonstration erhält jeder Demonstrant DM 10,00. Die Debatten des Konvents sind nur Scheingefechte! im Grunde geht es nur darum, ob man sich Peking oder Pankow zuwenden will! (RCDS)

Nicht doch! Let’s get stoned and get together. Joints wie Ofenrohre, bunte Teestuben, Pink Floyd: A Saucerful of Secrets! Nehmt den Fahrstuhl, nicht die Macht. Nicht Brot mit Quark, Solidarität macht stark. Provokation muss Spaß machen. Es wird ein Lachen sein!!!


Motorradrennen auf den Gängen der Münchener Akademie. Beim „Tag des des Zweirades“, den der Asta der Akademie gestern ausrief, ging der Bildhauer Bruno K. als Sieger hervor. Auf seinem Herkules-Motorrad durchmaß der die Gänge im Erdgeschoss der Akademie als Schnellster. Die Studenten sahen das „Drive in“ als Protest gegen die faschistische Sachbürokratie und als kreative Darstellung künstlerischer Bewegung verbunden mit Akustik. Hausherr Professor Brenninger: Das ist Wahnsinn.

 

Grenzüberschreitungen machen feucht im Schritt. „Orgasmus für alle!“ „Vögelt nicht im AudiMax!“ – Den Gazetten von Springer gerieten die Provokationen der „Kommune” und ihrer Sympathisanten zu einer Summe von „Obszönitäten“ und „unüberbietbarer Dreckigkeit“. In der Kochstraße machte man sich zum Sprachrohr all der Verwirrten, die „kurzen Prozeß“ für das „rote Gesockse“ forderten. Ins Arbeitslager wollten sie mich schicken. Von wegen.

 

Keine Parteilinie mehr! Überhaupt keine Linie mehr! Entsagt jeder Linie und kämpft fortan nur noch auf dem Strich! Popoisten aller Länder vereinigt Euch!

Noch ist nicht alles zu spät. Es gibt sie noch: die Spaßguerilla, auch die „Vereinigten Popoisten“, die jede Menge Widerspruch gegen all die autoritären und zwanghaften Trends liefern.

Ihr Lumpen gehört alle aufgehängt, wir Arbeiter werden nie mit Euch zusammengehen. Genauso muss mit den Studentenhuren gehandelt werden. Wir haben Euch alle gefilmt, nun könnt ihr euch nicht mehr ausreden. (Anonymous, Heidelberg)

 

70 Jahre und noch länger,
sind sie bange und noch bänger
vor Polente, Nachbarsfrau,
Gottes Thron und Kohlenklau.
Von den hochgestellten Leuten
lassen sie sich willig beuten.
Darum sei nicht fromm und brav
wie ein angepflockes Schaf,
sondern wie die klugen Kinder
froh und frei. Das ist gesünder.
(FK Waechter)

Dank an’s „APO-Archiv“ des Universitätsarchivs der Freien Universität Berlin für die großzügige Unterstützung. Und meine tief empfundene Begeisterung für Gerhard Seyfried, der eigens in seine digitalen Archive hinab stieg, um Illustrationen für das Kleine Rebellarium upzuloaden.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/spurensuche/2018/07/02/das-kleine-rebellarium-6/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert