vonDetlef Berentzen 16.05.2019

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

Mehr über diesen Blog

Reden wir mal von Wohnungen. Von deutschen Wohnungen. Nicht von denen, die heute keiner mehr bezahlen kann, weil das smarte Kapital im asozialen Blindflug und weitgehend unkontrolliert auf hyperprofitablen Highways unterwegs ist. Nein, reden wir von jener unglaublichen Zeit, in der es tatsächlich kein Problem war, in Kreuzberg eine Wohnung zu bekommen. Oder gleich zwei oder drei. Bezahlbare Einzimmerwohnungen in Westberlin für 60, 70, 80 Mark das Stück. Mit Aussenklo und Kachelofen.

Damals habe ich noch Dylan gehört, allerdings nie ohne Lederjacke. Strom war da, Plattenspieler auch, unsere WG hauste in einem Quergebäude (Vorderhaus war zu teuer!), hatte gleich mehrere Stockwerke gemietet, eine der Wohnungen mit Kohlebadeofen (Kupferkessel) als gemeinsame Waschstube eingerichtet, irgendwo auch ein großes Schreibzimmer, egal, der Vermieter war schwer zufrieden, wenn die Miete kam. Alles war Bohème – Landwehrkanal und Kreuzberger Weltlaterne ganz in der Nähe. Ein paar Hundert Mark hatte jeder von uns im Monat, wenn‘s nicht reichte, war da ein Job. Immer war da ein Job. Nachtschicht, Taxi, Lagerarbeiten oder sonstwas. Und für den großen Hunger danach in jeder Etage eine Kochmaschine für 1a-Nudelgerichte.

 

Und gesungen haben wir: Den „Hartmann-Blues“. Begleitet von Gitarre und Blues-Harp. Ein Song über die alte Frau Hartmann. Die wohnte mit ihrem schwer herzkranken Mann im fünften Stock. Seitenflügel. Der Alte kam nie runter, hatte dafür aber CB-Funk. Und sie immer mit Dutt und in Kittelschürze unterwegs: „Komm’se ma rauf! Auf’n Kaffee!“ Dann haste da jesessen und gehört, wie das Leben so läuft: Manchmal isses vor die Wand jelaufen. Wat soll’s? Aber der Kaffee war Klasse, prima Kondensmilch und wir erzählten irgendwann von unserer letzten Demo für‘s Rauchhaus: „Aaah, zu dem roten Gesockse gehört ihr!“, hat die Hartmann da gelacht und sofort gefragt: „Noch’n Käffchen?“ Klar doch.

Nun ja, auch das war Kreuzberg. Vor knapp 50 Jahren oder so. Sowas muss in einer „Deutschstunde“ halt erzählt werden, weil’s demnächst keiner mehr erinnert oder auch nur hören will. Trotzdem: War nicht das Schlechteste. Echt nicht. Und den Hartmann-Blues spiele ich heute noch. Gehört zum Repertoire.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/spurensuche/2019/05/16/deutschstunde-fuer-einbuergerungswillige-9/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert