vonDetlef Berentzen 24.05.2019

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

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Nach Normalität fragst Du? Und hast Deinen Norbert Elias noch nicht gelesen? Oha, Normalität ist eine Schimäre und unterliegt mächtigen Wandlungen. Sagt auch Dylan. Wenn Du Dich zum Beispiel – willig genug – in Deutschland einbürgern lassen willst und deshalb diese außerordentliche Deutschstunde besuchst, solltest Du wissen, dass das Germany von 2019 mit seinen feixenden Robotern, uniformierten Top-Models und gut geschminkten InfluencerInnen ein ganz und gar anderes Deutschland ist als das, in dem wir noch vor ein paar Jahrzehnten hausten.

In der selbstständigen politischen Einheit Westberlin zum Beispiel, eingemauert, aber nicht ohne VW-Bus: Freak Brothers!! Du erinnerst dich? Von den extrem günstigen Mieten für Künstler, Proleten, Studenten und sonstige Verrückte war ja schon in den letzten Stunden die Rede. Auch von unseren prügelnden Nazilehrern im Afterwar und dem Aufstand der umherschweifenden Rebellen gegen die Masters Of War. Nur von meiner schwarzen Lederjacke habe ich noch nichts erzählt. Gut, ich habe sie hie und da mal als Zeitkolorit erwähnt, mehr aber auch nicht.

 

Zum Beispiel habe ich noch nicht verraten, wo ich sie gekauft habe. In Kreuzberg natürlich. Aber in 61. In jenem Teil von Kreuzberg, der nicht 36 war. Schlimm genug. Aber nur da gab es diesen hervorragenden Laden für gebrauchte Klamotten. In der Körtestraße. Nahe Südstern. Hemden, Hosen, Jacken, alles gab’s da, frisch gewaschen, meist aus Amsterdam importiert. Einen Stand auf dem Flohmarkt hatten die auch, aber in der Körte gab es Tee und was zu rauchen. Und eben diese Lederjacke – schwarz, militant und saß gut auf der Hüfte. Neunzig Mark hat die gekostet. Drei Transporte mit dem LKW für’s Kollektiv und sie war bezahlt.

Ja doch, Kollektive waren seinerzeit die neue Normalität, alles selbstverwaltet und ziemlich alternativ, auch die Müsliläden mit den Haferflockengurus. Agit-Druck, Peace-Food, Molli-Extra – all das wurde voll normal. Andere Zeiten eben. Finstere Zeiten, ohne taz, Smartphone und Youtube. Ja, Scheisse, wir hatten noch Flugblätter und analoge Telefonketten, die funktionierten allerdings ganz prima. Und niemand konnte uns erzählen, dass irgendetwas „alternativlos“ war (bis auf meine Lederjacke vielleicht). WIR waren die Alternativen. Hatten allerdings noch keine Ahnung von irgendwelchen Klimakatastrophen. Oder Freitagsdemos. Und verdammt, dieser “Rezo” war noch gar nicht geboren – alles anders also. Und heute wieder. Doch, gemach, es gibt auch Dinge, die bleiben. “Get up! Stand up!” Das gilt immer noch. Voll normal! Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Get up! Stand up! (Public Enemy)

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