Was treibt die Kunst, was fordert die Kunst, wogegen geht die Kunst an, vor allem: wie entscheiden sich Künstler? Ein kleines Plädoyer über die Rolle, die Kunst heute sein könnte.
Was kann Kunst in Zeiten des globalisierten Chaos? Diese Frage möchte ich mit den folgenden Zeilen anschneiden, vor allem aus dem Standpunkt Kunstschaffender für Kunstschaffende, da ich auch ein literarisches Selbstverständnis habe. In einem wird man mir zustimmen: Zu allen Zeiten und insbesondere zur heutigen Zeit wurde und wird die Kunst unterschätzt; Sowohl von jenen, die das Privileg haben, Kunst erschöpfend genießen zu können, als auch von jenen, die weder Zeit noch Freiheit haben, sich überhaupt mit Kunst auseinander zu setzen, aber vor allem von jenen, die Kunst schaffen. Von allen wird sie unterschätzt, d.h. sie wird belächelt oder beiseite geschoben. Entweder sie unterhält oder langweilt, ist berührend oder arrogant, ist was für Schöngeister oder eine bloße Ware und das war‘s. Warum ist das so?
Bei den – selbstverständlich klassensituativ bedingten – Privilegierten versteht sich das von selbst. Sie wissen, die Kunst kann in bedrohlicher weise gegen ihre Privilegien anlaufen. Deshalb belächeln sie die Kunst. Das ist nur konsequent.
Aber auch bei den ungeheuerlich vielen Notleidenden, die vom täglichen Notstand der Lohnarbeit getrieben werden, versteht sich das von selbst. Denn sie sagen: Kunst schafft uns weder Obdach, noch Brot, noch Kleidung, noch kann sie Schulden bei der Bank bedienen, kurz: keinen Frieden, keine Versöhnung mit dem Menschen. Kunst ist eine zu teure Angelegenheit und teure Preise schieben wir beiseite. Da haben sie Recht. Das ist auch nur konsequent.
Aber auf beide Gruppen möchte ich hier gar nicht eingehen. Ich habe nämlich nicht die Absicht, zu langweilen, indem ich von Selbstverständlichkeiten erzähle, die jedem bekannt sein dürften, aber die die Meisten nicht erkannt haben. Ich trinke auch manchmal lieber ein Bier und tue so, als wären Selbstverständlichkeiten selbstverständlich. Laster haben wir alle, und das ist auch gut so. Sie verweisen uns auf die Ausgangstüren in den dunklen Gemächern der Gottheiten.
Ich möchte nur kurz auf jene eingehen, die ich noch ausgelassen habe: die Kunstschaffenden, d.h. jene, die Kunst machen.
Ich sagte: auch die Kunstschaffenden unterschätzen gemeinhin die Kunst. Ich denke, bei ihnen versteht sich das eben nicht von selbst. Denn haben sie sich nicht entschieden, Kunst zu machen? Doch, das haben sie – ansonsten würden sie nicht Kunst machen. Eine Berufsausbildung zum Kunstmachen gibt es im engen Sinn nicht. Sie haben also eine Entscheidung getroffen. Aber die Frage ist, war diese Entscheidung konsequent? (Hier kommen wir der Sache näher.) Ich glaube, es kommt darauf an.
Eine Entscheidung beginnt immer mit einem „ob“ und wird nach einigen Zwischenschritten schließlich eine ganze Sache, wenn sie im „für etwas“ mündet. Kurz gesagt, „ob“ man Kunst macht und „für was“ man sie macht. Jede Entscheidung ist ein Selbstentwurf. Da Kunst aber auf Menschen angewiesen ist, auf ein Publikum, darin ihr sozialer Charakter, um überhaupt Kunst zu sein, stellt sich die Frage so: „ob“ du Kunst machst und wenn ja, „für wen“ du sie machst, auch wenn das „für wen“ sich zuweilen bewusstlos vollstreckt.
Ich denke, die meisten Kunstschaffenden treffen hierüber, also über das Letzte, keine Entscheidung. Sie sitzen es aus, d.h. sie ignorieren es, lassen sich treiben. Warum? Weil sie ihre Kunst damit in Verantwortung stellen müssten. Sie würden spüren, dass sie ihrer Kunst etwas schuldig sind, dass ihre Kunst von ihnen etwas verlangt, indem sie in ihnen Unbehagen auslöst. (Man kennt den Zustand uferloser Unzufriedenheit bei großen Künstlern.) Dann würde nicht mehr der Preis, sondern der Wahrheitsgehalt ihrer Kunst in Frage stehen, der stets eine schwierige Angelegenheit ist. Sie fürchten sich, ihre Kunst rechtfertigen zu müssen. Das trifft wohl oder übel auch auf etablierte Künstler zu. In gewisser Weise ist unsere Zeit, vor allem mit Blick auf meine Generation, die Zeit der Preise und der Feiglinge, die wissen, dass vor ihrer zugenagelten Tür eine Leiche verwest, aber sie öffnen die Tür nicht, weil die Leiche bis zum Himmel stinkt. Denn die Rechnung, die zu bezahlen wäre, ist zu hoch. Feigheit ist billiger, und Konflikte verlangen manchmal Grenzsituation, wie das eigene Leben. Da tapeziert oder bemalt man lieber die vier Wände oder vertreibt die kostbare Zeit mit der glitzernden Oberfläche eines Smartphones.
Dabei sollten wir Kunstschaffenden wissen: Kunst ist das Asyl des Geistes. Ein Asyl – ähnlich wie heute in unserer Welt für viele Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen – ein Asyl für den Geist, den eine barbarische Realität vertreibt, ja verbannt. Allerdings ist dieses Asyl kein Ort, welches der Geist aufsucht, um die Realität, die ihm feindlich entgegentritt und ihn vertreibt, zu ignorieren oder zu verdrängen. Die Kunst ist kein Ort, um sich gemütlich und eskapistisch einzurichten. Nein, dann hätte nämlich die Barbarei gegen den Geist gesiegt.
Dieses Asyl ist der Ort, um die Realität zu bekämpfen, die den Geist bekämpft, der Ort nämlich, in dem der Geist Bewusstsein, Energie und Inspiration schöpft, um gegen jene bewusstlose und deprimierende Realität anzugehen und seine vitale Realität zu errichten. Und wenn wir mal ehrlich sein dürfen: die Realität von heute ist ohnmächtig und deprimierend. Da braucht man einfach durch den Hauptbahnhof einer deutschen Großstadt, bspw. In Stuttgart, oder durch die bunten Einkaufspaläste und überhaupt Alleen der konsumistischen Kulturindustrie zu laufen. Mentaler Schlächterei begegnet man nicht nur in Nachrichten aus der Welt, sondern an jeder Gasse, sobald man die eigenen vier Wände verlässt – wenn man schon den Hochmut besitzt, zu leugnen, dass die eigenen vier Wände nicht aus Gitterstäben bestehen.
Aber welche Realität hat der Geist, der Asyl in der Kunst sucht?
Alle großen Künstler verraten es uns, wenn man ihnen genau zuhört, das macht sie groß: Wahrheit schlechthin ist die Realität des Geistes, also der universelle Wille zur Menschwerdung aus dem Menschsein mit dem Ziel der umfassenden Humanisierung aller Lebensverhältnisse.
In diesem Sinn möchte ich diesen dürftigen Beitrag mit den Worten eines großen spanischen Künstlers abschließen, der seinerzeit im Untergrund gegen die Unwahrheiten der Nazis gekämpft hatte. Er sagte einst: Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt.
Nun, die Kunstschaffenden brauchen die Kunst nicht zu unterschätzen. Vorbilder gibt es genug. Sie müssen sich lediglich entscheiden: für wen sie Kunst machen. So wie die Meister es gemacht hatten. Das wäre konsequent.
Und damit komme ich auch zum Schluss. Im Grunde genommen wollte ich nur schreiben, was man ohne Einleitung falsch verstanden hätte: lügen wir, um die Wahrheit zu sagen.