vonMesut Bayraktar 29.01.2018

Stil-Bruch

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Tayfun Demir, der rastlose Gast, zeigt am eigenen Leben die Mühen und Schwierigkeiten eines Emigranten in Deutschland – ein Buch, das den Heimatlosen eine Stimme gibt.

Der rastlose Gast hatte schon viele Lebensstationen: politischer Aktivist, Häftling, Flüchtling, Bibliothekar, Sozialarbeiter, Lese- wie Sprachförderer, Verleger, Emigrant, Grenzgänger und immerzu ruhelos auf der Suche nach Frieden, Gerechtigkeit und nach dem Selbst. Das macht die vorliegende Migrationsbiografie deutlich. Mittlerweile ist der Autor pensionierter Bibliothekar. Tayfun Demir leitete fast 30 Jahre lang die interkulturelle Abteilung in der Stadtbibliothek Duisburg. 2015 wurde er für sein transkulturelles Engagement als Ehrengast bei der 10. Jubiläumsausgabe der Buchmesse RUHR in der Zeche Zollverein gewürdigt. 1950 in Ahlat, einem kleinen Ort am nördlichen Rand des Vansees an der persisch-türkischen Grenze, geboren, war seine erste Emigration Istanbul, wo er aufgewachsen ist. Die zweite Emigration folgte im Zuge des zweiten Militärputsches in der Türkei im Jahr 1971. Seit 1976 lebt er in Deutschland. Das vorliegende Buch schildert eine zusammenhängende Lebensgeschichte, die unter Berücksichtigung verschiedener Modifikationen zugleich die Geschichte einer Generation ist, die im Spannungsverhältnis zwischen Heimat und Fremde bis heute um einen Platz kämpft. In diesem Sinne ist diese Generation mit ihren Ängsten und Sehnsüchten, Erinnerungen und Hoffnungen eine Generation der Enterdeten.

Ein Seehund im Marmarameer

In den ersten Seiten des Buches erwähnt der Autor mit Blick auf seine Kindheit die Freundschaft mit einem Seehund am Bosporus. Dieser Seehund, der noch heute einer der häufigen Gäste in meinen Träumen ist, wie der Autor bekennt, wirkt wie eine Parabel zum gesamten Buch. Als kleines Kind begleitete Demir den Fischer Ali Kaptan Baba, der mit seinem Boot täglich ins Marmarameer ausruderte. Wie für jedes Kind die Wirklichkeit in Schleiern liegt und das Lüften dieser Wirklichkeit die höchste Abenteuerlust befriedigt, so sind auch die Passagen mit Ali Kaptan Baba von kindlicher Aufregung und Daseinsfreude gekennzeichnet. Auf einem Boot sein, die Vielfalt der Fischarten entdecken, eine Angelschnur einrollen, den schwimmenden Seetang einatmen und dem Plätschern des Wassers lauschen – das kann für ein Kind der Himmel auf Erden sein. In diesen Ausflügen wurden die beiden oft von einem Seehund begleitet, der mehr einer Katz glich, aber sich wegen seines Schnurrbartes schämte und deshalb das Leben im Wasser gewählt hatte. Diesen Seehund schloss Demir in sein Herz und erzählte anderen Kindern seines Alters, dass er einen besten Freund habe: nämlich den Seehund, worauf seine Mitfreunde sicherlich neidisch waren. Denn welches Kind hätte nicht gern einen Seehund zum Freund? Diesen Seehund traf er jedenfalls oft in seinen Ausflügen. Vielleicht ist er auch nur deswegen mit Ali Kaptan Baba ausgerudert? Das bleibt das Geheimnis des Autoren. Jahre Später erfährt Demir jedoch, dass die Seehunde aus ihrer Heimat vertrieben wurden, vom Felsen am Zusammenfluss von Bosporus und Schwarzem Meer. Seitdem waren sie verschwunden und kehrten nicht wieder zurück. Was schlussfolgerte der rastlose Gast aus dem Verschwinden des Seehundes? Mein Freund, der Seehund, führte mir die Barbarei unserer Zivilisation vor Augen.
Der Seehund bleibt bis zum Schluss des Buches der hintergründige Begleiter des Autors und ist nunmehr auf jeder Seite zu spüren, so als würde er mit seinem Schnurrbart mit jedem Seitenumschlag zwischen den Buchstaben auftauchen und den wegweisen, den der Leser gemeinsam mit dem Autor gehen soll.

Das Los des rastlosen Gastes

Eine Biografie zu schreiben, ist eine Unmöglichkeit. Sie bleibt immer ein gescheiterter Versuch. Eine Autobiografie zu schreiben, ist ein Annäherungsversuch an das Selbst, das man sich beim Schreiben zu einem >Anderen< macht. In gewisser Weise ist auch das eine Unmöglichkeit, aber diese Unmöglichkeit hat Etappen des Möglichen, die man erreichen kann. Allerdings nur unter den Bedingungen vollkommener Aufrichtigkeit und der Auslöschung aller Eitelkeit. Diese Bedingungen hat Tayfun Demir in seinem Buch gewissenhaft eingehalten. Daher macht er Unsichtbares sichtbar und setzt den Leser in den Stand, durch das Selbst des Autors hindurch das eigene Selbst zu erblicken, auf das eine gelungene Autobiografie stets verweist. Sie fordert dazu heraus, selbst aufrichtig zu sein und jede Eitelkeit, die das Dasein unnötig aufwertet, auszulöschen. Ein Mensch erkennt sich in einem anderen Menschen, wie Demir erklärt und weiter geht: in einem anderen Land erkennt er sein Selbst. Der Andere, als Oberbegriff gefasst, ist der Sündenfall der eigenen Existenz, könnte man an dieser Stelle mit Jean-Paul Sartre sagen.
So schildert Demir in spielerischer Weise die beschwerlichen Bemühungen eines Emigranten in Deutschland, der der türkischen Kultur innigst verbunden bleibt, aber sich nicht mit einer passiven Statistenrolle zufrieden geben möchte. Im Gegenteil, Demir zeigt, dass das Leben keinen Aufschub duldet, sondern in jedem Augenblick Aufgaben stellt, die es gelöst haben will, um sich zu entfalten.
Als Mann des Geistes und der Tat setzt er in Deutschland unzählige Projekte in Gang, die eine Brückenfunktion zwischen der Türkei und Deutschland haben. Er fungiert als Botschafter der Kultur zwischen in Deutschland lebenden Türken, den Deutschen und den in der Türkei lebenden Türken. Er lüftet die Hallen der Ignoranz, und überhaupt scheint Ignoranz sein größter und stärkster Feind zu sein, gegen den er sich mit jedem Wort auflehnt. Dabei ist sein Hauptmedium: die Literatur, und es war schon immer die Literatur, die die Rolle des Entgrenzers hatte und Unbekanntes bekannt machte; dabei den Boden für die menschliche Begegnung bereitete, weil sie in ihrem Wesenskern selbst mit der menschlichen Begegnung zu tun hat. Gleichzeitig ist sich Demir jedoch, wie die Parabel mit dem Seehund dem Leser überall anzeigt, stets der Tatsache bewusst, dass sowohl diesseits als auch jenseits des Bosporus die Gesellschaft mit Gewalt und strikter Hierarchie zusammengehalten wird. Daher verliert Demir auf keiner Seite seines Buches seinen Standpunkt aus den Augen. Er ist nicht standpunktlos. Er hat Überzeugungen. Er ist parteiisch. Er steht auf der Seite der Erniedrigten und Unterdrückten, auf der Seite der Schwachen und Entrechteten, kurz: auf der Seite der Arbeiterklasse, weil er selbst Kind dieser Klasse ist.
All die Entbehrungen des Grenzgängers verlangen jedoch einen hohen Preis, den man poetischen Preis nennen könnte. Aber lassen wir an dieser Stelle Demir selbst zu Wort kommen: Das Land, in dem ich wohne, ist nicht einmal für jene, die darin leben, eine Heimat. Deutschland, ist das mein Verbannungsort oder kann es meine Heimat werden? Indem ich in meiner Sprache den Weg frei machte für die Verbannung und an meinem Verbannungsort meine Sprache befreite, belebte ich den Versuch das Unmögliche zu ermöglichen. Doch nein, es war mehr die Vereinsamung als die Unmöglichkeit. Die Persönlichkeit, die ich in Vergangenheit und Zukunft für mich fand, sollte das sein, was am besten zu meiner Person passte: Das Alleinsein. Ich wusste, dass ich mein Inneres wie ein Käfer verschloss und dass ich mich selbst mit einem undurchdringlichen Panzer umgab. Ich wusste aber auch, dass ich diesen Panzer durchbrechen und verlassen musste, um ein Leben voller Sorgen zu führen, um Schmerzen zu erleiden, neue Gedanken zu entwickeln und um neue Hoffnung zu schöpfen.
Das Los des rastlosen Gastes ist, ebenso wie beim Seehund, immer und überall das Alleinsein. Rastlos ist der Gast auf Erden, wenn er nicht am Dasein zerbricht, sondern das Alleinsein zu überwinden versucht – trotz der grabenweiten Klüfte, die der Mensch dem Menschen stellt. Ab Seite 172 schreibt Demir so was wie einen letzten Brief an einen Jugendfreund, den ein unbarmherziger Tod fortgerissen hat. Hier erreicht die Rastlosigkeit Demirs seinen wärmsten und höchsten Punkt, der einen mitten auf den Brustkorb drückt.

Unsere Mütter, unsere Väter

Menschen wie Tayfun Demir sind für meine Generation von türkischstämmigen Menschen, deren Heimat auch – vielleicht sogar zunächst – Deutschland ist, Vorbild und Vermächtnisgeber. Solche Bücher sind unendlich wertvoll. Wie gerne würde manch einer wie ich eine Autobiografie diesen Formates von Vätern und Müttern lesen. Was hat mein Vater gedacht, als er das erste Mal in einer deutschen Fabrik mit 18 Jahren stand? Was erwartete meine Mutter, als sie mit ihrem 8-jährigen Kind in ein Auto stieg und das erste Mal die Grenzen ihrer Heimat verließ? Haben meine Eltern, meine Großeltern, meine Verwandten für die soziale Freiheit in den 60ern, 70ern, 80ern gekämpft oder sich mit den Lügen der Macht begnügt? Wie denken junge Türken in der Türkei über meinesgleichen in Deutschland? Ich habe so viele weitere Fragen, die mir die Lektüre aufgeworfen hat. Bei solchen Büchern kann man nur Danke sagen. Denn sie zeichnen auch ein Stück weit die Geschichte – in diesem Fall – meiner Eltern und Wurzeln nach, die mir, der ich aus einem Elternhaus ohne Bücher und hoher Bildung komme wie so viele meinesgleichen, die Gastarbeiterkinder, und in Deutschland aufgewachsen bin, allzu oft wie das vergebliche Suchen mit einer kurzen Kerze in düsterster Nacht scheint. Und dennoch drängt uns etwas innerlich seit Jahren zu dieser Suche. In diesem Kerzenlicht erscheint das Leben wie ein Exil.
Die Geschichte mit dem Seehund, Demirs Engagement für die türkische Arbeiterklasse bis 1971 und anschließend im deutschen Exil, die Suche nach Halt zwischen Orient und Okzident, das Leid der Verbannung, die Herzlichkeit im Umgang mit Freunden und Weggefährten, die erstaunliche Tatkraft, die kämpferische Festigkeit in sozialen Fragen, die Schmerzen hinter zeichenlosen Gitterstäben und verlorenen Mitstreitern – all das habe ich mit großer Anteilnahme gelesen. Ich hoffe, das werden auch andere tun, die diese Zeilen lesen.
Schließen wir diese Rezension mit den Worten des rastlosen Gastes und hoffen wir, dass noch ein zweites Band dieser Art aus seiner Feder stammen wird. Sein Weg und seine Bescheidenheit verdienen es: Geschichte bedeutet nicht nur das Wissen über die Vergangenheit und historisches Bewusstsein bedeutet ganz sicher nicht, nur der Vergangenheit verbunden zu sein. Menschen, die sich Sorgen um die Zukunft machen, können die Zukunft aufbauen, indem sie die Vergangenheit kennen und verstehen.


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