vonMesut Bayraktar 23.07.2018

Stil-Bruch

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In der Recalamausgabe zu Karl Marx macht Dietmar Dach deutlich, dass Interpretieren notwendig, aber nicht hinreichend ist, um die Welt zu verändern. Man muss es auch tun – wie Leben und Werk von Karl Marx zeigt.

Betritt man dieser Tagen den Buchhandel, stößt man fast in jeder Verkaufsfiliale auf einen Stand zu Karl Marx, meist gesondert von anderen Büchern. Schließlich ist dieses Jahr sein 200ter Geburtstag und das ist ein gegebener Anlass mit Büchern zu Marx (1818 – 1883) die Kassen klingeln zu lassen. Unzählige Bände zu Leben, Werk und Wirken türmen sich an solchen Ständen auf: dicke Biografien, schmale Monografien, komplizierte Analysen,  leichte oder schwere Einführungen in sein Werk, Fragen zur Aktualität seiner Kritik und politischen Ziele usw. usf.

Unter diesen unzähligen Büchern findet sich auch eine schmale, unscheinbare Reclamausgabe, grau, gecovert mit Schlagwörtern wie „Dialektik“, „Vereinigt euch!“, „Feuerbach“, „Mehrwert“, „Klassenkampf“ oder „die ganze alte Scheiße“ – es handelt sich um Karl Marx in 100 Seiten von Dietmar Dath.

Wer wütend ist, muss denken

Dieses Büchlein, das in einem Tag gelesen ist, bietet in seiner Klarheit und pointierten Struktur einen brillanten Eingang in das Werk des wirkungsmächtigsten und letzten großen Universaldenkers der Weltgeschichte. In der Terminologie Hegels ließe sich sagen, dass der „Weltgeist“ zuletzt in solcher Schärfe in der Person von Karl Marx figurierte,  um „die tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewusstsein zu bringen und auszusprechen.“ Sicher, diese Formulierung, eine Anleihe von Hegel, wäre für den historischen Materialisten zu idealistisch, wenn er sie nicht „vom Kopf auf die Beine stellt.“ Das weiß er, und er weiß es auch zu tun. Denn es ist unleugbar, dass es Hegel war, der stärksten Eindruck auf Marx ausübte. Ideengeschichtlich kann man ihr Verhältnis in Analogie zu den zwei wirkungsstärksten Denkern der Antike sehen: Platon und Aristoteles. Ebenso wie Aristoteles den Idealismus von Platon „aufhebt,“ hat Marx den Idealismus von Hegel, in dem die ganze bisherige Philosophie sich zu einem System kulminierte, in höherer Stufe „aufgehoben“; d.h. hochgehoben, aufbewahrt, überwunden.

In dem vorliegenden Buch von Dietmar Dath, der es im Auftrag von Reclam verfasst hat, schafft er es in aller Kürze die wesentlichen Wegmarken der Marx’schen Lehre aufzuzeichnen und Akteure wie Denker, ohne die Marx nicht denkbar und verstehbar wäre, in angemessener Bezugssetzung zu erwähnen. Die Sprache ist klar, zugänglich, möglichst einfach, was sicher auf Dietmar Daths, geb. 1970, Fähigkeiten als Journalist sowie Autor von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und Sachbüchern zurückzuführen ist. Das Buch ist nicht nur ein Gewinn für denjenigen, der das Werk von Marx kennenlernen will. Es ist auch interessant für Marx-Kenner, wie es im intellektuellen Jargon heißt. Aber vor allem ist es ein Buch für jene, die Wut in sich spüren. Dath hat das Buch in vier Kapitel unterteilt: Von der Wut zum Wissen / Von den Ideen zur Praxis / Vom Kapitalismus zum Kommunismus / Von der Vorgeschichte zur Nachwelt. Innerhalb der Kapitel finden sich alle paar Seiten Unterkapitel, sodass man als Leser ständig die Orientierung behält und die Koordinaten vor Augen hat, um sich nicht zu verirren. Außerdem hat das Buch auch eine persönliche Kerbe, die durch die Erfahrungen des Autors einen intimen Zugang zu Marx eröffnet. Denn zentral für Dath ist, verglichen mit seinen Erfahrungen, dass Marx das zu Bekämpfende immer zuerst einmal verstehen will und sich stets an der Praxis orientiert, wie es im Buchrücken heißt.

Heiße und kalte Wut

Mit Rekurs auf seine Erfahrungen von sich als Schüler und von seinen Mitschülern, „als ich die Begeisterung für Utopien gerade verlor“, konstruiert Dietmar Dath ein basales Schema zwischen heißer und kalter Wut. „Heiße Wut ist Erregung, die zwar die Quelle des Übels erkennt, das sie reizt, aber nicht weiter denken kann als bis zum unmittelbaren Gegenschlag.“ Kalte Wut hingegen ist „der Zustand der Unzufriedenheit über Leiden und ausbleibendes Vergnügen, der zum kühlen, auf langfristigen Erfolg angelegten Plan aushärtet, statt sich in spontanen Eruptionen zu verausgaben.“ Die heiße Wut steht für einen linken Dionysos, der zürnt, wütet, sich verzehrt und den unmittelbaren Ausdruck des Übels kaputtschlagen will, ohne die Ursache des Übels zu sehen – er ist Anarchist oder in der Kinderkrankheit des Linksradikalismus stecken geblieben. Die kalte Wut hingegen steht für einen linken Apollon, der zwar auch zürnt und wütet, seinen Dionysos gut kennt, aber Notwendigkeiten erkennt, Strategien für das Mögliche durch Kritik am Bestehenden entwickelt, klug, umsichtig und gleichsam revolutionär vorgeht – er ist revolutionärer Sozialist oder Kommunist. Diese beiden Seiten, könnte man meinen, sind die zwei Seelen in jeder linken Brust.

Mit dieser basalen Konstruktion, die ich hier auf Nietzsches Kategorien übertragen habe, bringt Dath Marx dem Leser näher. Auch in Marx verdichtete sich heiße und kalte Wut, die er jedoch in eine kalte überwand. Die kalte Wut transformierte sich zu einer Wut zum Wissen; und Wissen-Wollen heißt Freisein-Wollen. Denn Unwissenheit, in der heiße Wut stecken bleiben kann, hat noch nie einem Menschen geholfen. Das ist das Eindrucksvolle, das das Buch zeigt und dadurch zwei wichtige Gründe für die anhaltende Aktualität von Marx nennt: die strenge Wissenschaftlichkeit von Marx, die das zu Beseitigende erst verstehen will, und die unbedingte Praxisorientierung dieser Wissenschaftlichkeit. So denkt Marx in Notwendigkeiten, um Möglichkeiten zu erschließen und zu praktizieren. In diesem kritischen Sinn versteht der Marxist das Wesen des Kapitalismus besser, als die Kapitalisten oder bürgerlichen Ökonomen das tun.

Das ist ein grundsätzlicher Aspekt des marxistischen Ethos, das mich bis heute nicht nur fasziniert, sondern dem ich angeschlossen bin. Für mich ergeben die Dinge nur Sinn, wenn ich sie in Bezug zum Menschen denke, wenn ich sie sozusagen verirdische. Tue ich es nicht oder stoße auf Diskurse, wo dies nicht konsequent getan wird, erscheinen mir ebenso die Dinge wie solche Diskurse vollkommen sinnlos und nutzlos – nein mehr noch, sie sind Lügen, bewusste Lügen, um Verbrechen zu verdecken. Mit Marx lernt man die Dinge nicht als DING AN SICH, sondern als DING FÜR UNS zu sehen – und damit auch Kant „aufzuheben.“

Die 11. Feuerbachthese

Auch eine weitere, grundlegende Konstante im Denken und Werk von Marx zeichnet Dath nach. Dabei geht er von der weltberühmten 11. Feuerbachthese von Marx aus, den dieser im Frühjar 1846 in sein Notizbuch geschrieben hat: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Dies sei die „kompakteste dieser dialektischen Volten, nämlich die Bezeichnung eines der wichtigsten Übergänge in [Marx] Denken: des Schritts vom Notwendigen zum Hinreichenden.“ Es ist notwendig, das Falsche zu erkennen, um es loszuwerden. Es ist aber nicht hinreichend. Hinreichend wird es erst, wenn das Erkennen in die Praxis geht: d.h. wenn man das Falsche auch wirklich abschafft. So konzentriert sich Dath auf das Wörtchen „nur“, das Theorie und Praxis in der 11. Feuerbachthese in sich vereint. „In dem Wort >nur< steckt (…) der todernste Hinweis darauf, dass das [Interpretieren der Welt] nicht reicht.“ In anderen Worten: Ein Problem, das im Denken gelöst ist, ist nicht gelöst.

Dieser Illusion verfallen noch heute Intellektuelle und Kulturlinke, gar nicht erst zu sprechen von der akademischen Welt. Sie denken, dass ein Problem gelöst ist, wenn sie es im Kopf gelöst haben, bis die Wirklichkeit ihnen ins Gesicht schlägt.

In diesem Sinn lässt sich diese kurze Buchempfehlung mit Daths Worten schließen, die den Charakter von Marx Denken auf den Punkt bringt, der gleichsam Linke zum Marxstudium aufruft: „Eine so explosive Mischung aus Antikapitalismus und Zerstörung linker Illusionen wie die von Marx ausgeheckte hat man seither nicht wieder gefunden.“


Titelbild: Scan und Selbstbearbeitung

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kommentare

  • Zwei kleine Gedichte über Karl Marx und den Versuch der Umsetzung seiner Ideen:

    FREISPRUCH FÜR KARL MARX

    Karl Marx war im Grunde kein Marxist;
    Er erkannte die Übel seiner Zeit,
    Sah der Arbeiter unsägliches Leid;
    Da müsste aufbegehren jeder Christ.

    Das System zeigte sein hässlich‘ Gesicht;
    Lohnarbeit war nur Ausbeutung und Qual,
    Selbst Kinder gingen durch das Jammertal.
    Sah man dieses schreiende Unrecht nicht?

    Marx betrieb Kapitalismuskritik,
    Akribisch Gesellschaftsanalyse;
    Wollte die Arbeiter führen zum Licht.

    Für der Anhänger krude Politik,
    Roten Terror und dunkle Verliese
    Trägt der Philosoph Verantwortung nicht.

    OKTOBERREVOLUTION

    Marx hat das Szenario geschrieben,
    Lenin dann die Aufführung betrieben.
    In Petrograd schreitet man zur Tat,
    Dreht kräftig an der Geschichte Rad.
    So wird in einer stürmischen Woche
    Geboren eine neue Epoche.

    Die Marxsche Idee kaum umgesetzt,
    Werden im Land die Messer gewetzt.
    Im Kampf der Weißen gegen die Roten
    Zählt man nicht mehr die vielen Toten.
    Es führt eine lange blutige Spur
    Hin zur proletarischen Diktatur.

    Was Lenin hat voll Eifer begonnen,
    Hat Stalin zur Perversion gesponnen.
    Auf dem Volk lag eine schwere Last,
    Drückte ein ganzes Jahrhundert fast.
    Am Ende stand der rasche Untergang,
    Zu groß war der Leute Freiheitsdrang.

    Rainer Kirmse , Altenburg

    Mit freundlichen Grüßen

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