Im letzten Buch ist der Querulant vom Kessel durch Stuttgart gestiefelt, der Stadt, in der der VfB und die Kickers beheimatet sind, ein Mercedesstern auf dem Bahnhofsturm kreist und wo im Stadtgarten ein Gedenkstein für Liselotte Herrmann liegt. In seinem neuen Buch spaziert er im Staub von Stuttgart. Es geht um Joe Bauer. In Stuttgart kennt man ihn, nicht nur wegen seiner „Flaneursalons.“ Bekannt ist er auch durch seine unverwechselbaren und witzigen Reden auf Demonstrationen gegen schwäbischen Snobismus und Lokaldünkel. Besonders bissigen Spott hat der Hutträger für das Thema Wohnen.
Auf der Seite der Entrechteten
So beginnt sein neues Buch mit einem Text, worin er von einer Zwangsräumung in einem Gebäude neben seiner Stammkneipe erzählt. Das Haus gehört der städtischen SWSG, die, „wie jeder weiß, (…) nicht weniger rigoros operiert als alle anderen, die heute in der Elendszeit der Wohnungsnot ihre Profite einfahren.“ Dann fügt er hinzu, dass die Miete sicher gerecht sei. „Seit jeher sind es die Gerechten, die kassieren.“ Das ist Joe Bauer, der seit Jahrzehnten für die eher konservativen „Stuttgarter Nachrichten“ schreibt und sich dabei nicht scheut, das zu sagen, was ist. Er stellt sich auf die Seite der Entrechteten.
„Im Staub von Stuttgart“ ist eine Textsammlung aus seiner Kolumne. Das erwähnte Thema durchkreuzt viele Seiten. Nicht wo die Menschen leben, sondern wie sie leben, interessiert Bauer. So scheint seine Sympathie mit Hausbesetzungen bspw. 2018 in Heslach hervor, „die den Blick auf den Stuttgarter Mietwahnsinn geöffnet“ haben. Gleichzeitig bezeichnet die Zeitung, für die er schreibt, die Aktivisten als „Linksextremisten.“ Joe Bauer weiß, dass das absurd ist und schreibt es auf. In diesem Zusammenhang taucht natürlich das Bauprojekt Stuttgart 21 auf, gegen das er seinerzeit auf die Straße ging. Gegen die unsinnige Kostenbombe leistet er in seinen Texten Widerstand. Den aktuellen Zustand des Hauptbahnhofs nennt er „Depressionsbunker.“ Er spricht aus, was jedem Pendler in Stuttgart täglich durch den Kopf geht.
Daneben ist sein Antifaschismus zentral. So kommt er immer wieder auf das „Hotel Silber“ zu sprechen, das zur Nazi-Zeit das württembergische Hauptquartier der Gestapo war. Erst nach über 70 Jahren streitet die Stadt über die kulturelle Nutzung des Gebäudes, das zwischenzeitlich abgerissen werden sollte. Mit Joe Bauer ärgert man sich über die Geschichtsvergessenheit und Laxheit der Verantwortungsträger, die aber kurzerhand den Bau von Breuninger-Warenhäusern problemlos genehmigen, obwohl Alfred Breuninger, Sohn des Firmengründers, NSDAP-Mitglied und Profiteur des Nazi-Terrors war. Wer mal in Stuttgart war, weiß, dass die Shoppingmalls von Breuninger an jeder frequentierten Kreuzung mit leuchtenden Trophäen posieren und ihren Schatten über die Menschen werfen.
Viel Staub im Kessel
Vor diesem Hintergrund öffnet Joe Bauer die Kontraste der Gegenwart und erwähnt die Widerstandsgruppe Schlotterbeck, die Kämpferin Clara Zetkin, den berühmten Gewerkschaftsführer Willi Bleicher, den Sozialisten Friedrich Westmeyer, den kritischen Kommunisten Theodor Bergmann oder die einzige Frau aus Stuttgart, die sich im spanischen Bürgerkrieg den Internationalen Brigaden anschloss und 1942 in den Gaskammern der Nazis ermordet wurde: Betty Rosenfeld. Auch fallen Worte zu Dichtern und Denkern wie Ferdinand Freiligrath, Georg Herwegh, Heinrich Heine, Wilhelm Raabe oder Ernst Toller, wenn er erklärt, was Solidarität bedeutet. Schließlich echauffiert er sich über die Verwahrlosung des Neckars. Zu Recht. In Stuttgart gibt es kaum eine Flusspromenade.
Ein Spaziergänger erzählt also – nüchtern, raffiniert und verständlich. Das Buch eröffnet einen ehrlichen Einblick in die Stadt am Neckar, die stets glänzen will, aber nicht glänzen kann, weil sie viel Staub im Kessel sammelt. Joe Bauer ist jemand, der diesen Staub, auch im Verborgenen aufsuchend, mit der Sprache aufwirbelt, damit gehustet wird. Was seine Texte auszeichnet, ist etwas, was heutzutage rar wird: Haltung.
Joe Bauer: Im Staub von Stuttgart – Ein Spaziergänger erzählt. Edition TIAMAT, 288 S., bro. 16 €.