vonAndreas Herteux 26.03.2023

Objektive Subjektivität

Ein Blog von Andreas Herteux, der sich mit Zeitfragen beschäftigt. Und das immer objektiv-subjektiv. Headerfoto: Berny Steiner / Unsplash

Mehr über diesen Blog

Main-Spessart ist ein Landkreis in Unterfranken. Ein schönes Fleckchen Erde mit angenehmen Menschen und zudem touristisch außerordentlich interessant – zweifellos kein schlechter Ort, um sich dort dauerhaft anzusiedeln. Der Unterfranke betrachtet sich häufig als bodenständig, anpassungsfähig, gelegentlich gesellig, gastfreundlich und weltoffen. Man neigt eher zu einer wohligen Form des Stoizismus („bassd scho“) als zum Euphemismus und ist damit in der Regel gut gefahren.

Ländliches Leben in einer gewissen Homogenität – so könnte vermutet werden. Doch entspricht das überhaupt noch der Realität? Oder lohn sich ein genauerer Blick? Nicht nur auf einen einzelnen Kreis, sondern auf ein ganzes Land. Wie verhält es sich mit der Gesellschaft? Was ist ihre Wirklichkeit, was ihre Wahrheit?

Nun, eine wirklich homogene Gesellschaft gab es im Westen Deutschlands nach dem Krieg nie, allerdings kann durchaus von einer begrenzten Heterogenität gesprochen werden. Ein wenig katholisch, einige Varianten des Protestantismus, die zwischen Liberalität und Konservatismus schwanken, und dazu noch eine sozial-demokratische Ebene. Akzentuiert, aber dennoch mit großen Schnittmengen und Gemeinsamkeiten.

Das hat sich über die Jahrzehnte verändert, wozu mannigfaltige Einflüsse beigetragen haben. Soziale Milieus wurden über die Jahrzehnte individueller, kleiner und zerbrachen in weitere Lebenswirklichkeiten mit ihren eigenen Vorstellungen von einem guten Leben und dem idealen Handeln. Manchmal mit großen Schnittmengen, aber zunehmend mit deutlichen Reibungspunkten, die immer mehr Einzug in die öffentliche Debatten fanden. Eine zunehmende, aber zunächst noch sehr langsame Entwicklung. Eine, an die man sich lange Zeit anpassen konnte, wenn es denn erwünscht war. Das war nicht unbedingt immer leicht, aber noch möglich.

Das änderte sich innerhalb weniger Jahre mit der Etablierung des Internets und dem Entstehen von großen Verhaltenskapitalisten wie beispielsweise Google, die dem schleichenden Trend zur Individualisierung dynamisierten, befeuerten und damit die sozialen Milieus erodieren ließen. Ja, es ist auch ein Segen, dass tiefe, innere Bedürfnisse nun herausgearbeitet werden können. Ständiges Auswerten des einzelnen Verhaltens – stetig Ergebnisse, die mit jeder weiteren Aktion an den Einzelnen modelliert werden. Jede Konditionierung bedingt aber auch soziale Entfremdung – bis hin zur Identifikationsdissonanz, die an nicht wenigen der heute zunehmenden psychischen Erkrankung mitverantwortlich sein könnte.

Das „Ich“ steht im Mittelpunkt, Rücksicht muss nicht genommen werden. Der Mensch formt sich selbst, wenngleich er diesen Prozess zum Teil auch vertrauensvoll in die Hände der Algorithmen legt. Oder wird er geformt? Gleich wie; für viele öffnete sich so eine Welt, die noch vor einigen Jahrzehnten unerreicht geblieben wäre. König in der eigenen Realität – zweifellos ein hoher Individualisierungsgrad.

Derartiges konnte aber für die Gesellschaft nicht folgenlos bleiben, denn der neue Mensch passt nicht mehr in seine Milieugrenzen und daher beginnen diese zu zersplittern. Immer schneller und schneller. Neue mit eigenen Weltansichten, Handlungsmuster und Einstellungen entstehen und entwickeln sich stetig weiter. Auf dem Weg zum kollektiven Individualismus, der allerdings solange nicht vollständig erreicht werden wird, solange eine Knappheit der Ressourcen und Milieukämpfe vorherrschen.

Bis dahin werden diverse Lebenswirklichkeiten nebeneinander existieren und versuchen ihre Interessen zwecks Befriedigung der eigenen Bedürfnisse durchzusetzen. Mal kooperiert man mit dem einen Milieu, mal mit dem anderen. Je nach Zwecklage. Das ist oft schwierig zu durchschauen und verleitet dazu, falsche Schlüsse zu ziehen oder aber altbackende Erklärungsmuster einer neuen Zeit überstülpen zu wollen – sei es aus Bequemlichkeit oder aus einer starren Sicht des eigenen Milieus heraus.

Die Konfliktlinien im 21. Jahrhundert finden sich bei den sozialen Lebenswirklichkeiten. Sie lassen sich auch nur dort befrieden. Es ist eine erodierende Gesellschaft. Es sind längst viele kleine Gesellschaften, die sich inhaltlich wenig zu sagen haben und deswegen aufeinanderprallen müssen. Der Klassenkampf und das alte Links-Rechts-Schema sind für die Beschreibung der Wirklichkeiten längst obsolet.

Doch zurück in den unterfränkischen Landkreis Main-Spessart. Dieser ist von der Erosion der Milieus nicht weniger betroffen als andere Regionen des Landes. Die Bruchlinien sind, vielleicht liegt es an der Weitläufigkeit, vielleicht, weil man die Strukturen noch nie auf eine solche Art und Weise betrachtet hat, möglicherweise weniger sichtbar, aber dennoch vorhanden, wenngleich sie oft auch nur flüchtig wahrgenommen werden. Und doch steht auch dieser Landkreis, vor Herausforderungen, die nur gesamtgesellschaftlich gelöst werden können. Ohne einen Konsens wird es nicht gelingen. Wie diesen aber erreichen? Die Antwort wird am Ende genauso zersplittert sein, wie es die Wirklichkeit ist:

Individuell, in dem man sich, idealerweise vor Ort, mit den Sorgen und Nöten der sozialen und individualisierten Milieus beschäftigt und kollektiv, in dem die Grundidentität betont, die als gemeinsamer Nenner dienen kann. Nur in einer Kombination aus beiden Elementen kann gesellschaftlicher Zusammenhalt in einer neuen Zeit bewahrt werden. In Main-Spessart. In Unterfranken. In Deutschland.

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/subjektivitaet/verfall-der-wirklichkeit/

aktuell auf taz.de

kommentare