vonAndreas Herteux 06.10.2022

Objektive Subjektivität

Ein Blog von Andreas Herteux, der sich mit Zeitfragen beschäftigt. Und das immer objektiv-subjektiv. Headerfoto: Berny Steiner / Unsplash

Mehr über diesen Blog

Laut aktuellen Studien werden im Jahr 2022 bis zu 40% der Ausbildungsstellen nicht mehr besetzt. Kein neuer, aber ein wachsender Trend und die Folge ist ein akuter Fachkräftemangel, der sich immer weiter zuspitzen wird. Von der Pflege über das Handwerk bis zu den Verkaufsberufen – die Lücken sind überall absehbar.

Eines der zentralen Probleme ist dabei, dass besagter Fachkräftemangel immer noch zu stark auf dem Blickwinkel der Nachfrage, des Bedarfs an Arbeitskräften, betrachtet wird, weniger aus dem der tatsächlichen oder potenziellen Zielgruppe. Ein Ansatz, der oft verkennt, dass das Individuum heute, getragen von den neuen Medien, einem völlig anderem Reizrahmen, einer sich dynamisch wandelnden Wirklichkeit ausgesetzt ist.  Onlinezeiten von mehreren Stunden am Tag sind inzwischen ebenso Normalität, wie die Konditionierung auf verhaltenskapitalistische Belohnungssysteme, die unmittelbar wirken.

In der virtuellen Welt, in der Regel heute Teil einer Gesamtrealität, erfolgt die Reaktion auf den Reiz häufig unmittelbar und wenn es nur die Google-Anfrage ist, die sofort beantwortet wird. Der Verhaltenskapitalismus nutzt die Handlungen des Einzelnen, generiert entsprechende Angebote und bettet das Individuum immer mehr ein. Der Mensch ist Mittelpunkt, Fixstern und nicht selten auch ein Star. Verhalten wird zu einem Produktionsmittel. Wie so vieles hat dies positive und negative Seite. Mögliche sowie totale Selbstentfaltung gegen eine umfängliche Kommerzialisierung des Innersten. Die Wirklichkeit liegt irgendwo dazwischen. Die Folge der Aufwertung des Ichs ist allerdings unabdingbar. Und gerade der letzte Punkt findet bislang kaum Aufmerksamkeit. Eine Entwicklung, die sich durch die Pandemie noch beschleunigt haben sollte.

All das wirkt sich prägend auf Persönlichkeitsentwicklung, Verhalten oder die Kompetenzen des Einzelnen aus. Aus dem Homo sapiens ist in vielen Fällen ein Homo stimulus geworden, eine passende Beschreibung für den Typus des auf schnelle Reize und Belohnungen konditionierten neuen Menschen. Wer ihn kennenlernen möchte, dem sei eine beliebige Fahrt in einer Straßenbahn und ein Blick auf die Interaktion vieler Fahrgäste mit jenen merkwürdigen kleinen Geräten in den Händen empfohlen

Dieser Homo stimulus ist für eine Ausbildung allerdings weitaus schwerer zu motivieren als seine Vorgänger, denn er steht in Teilen seiner Realität im Mittelpunkt, in der beruflichen Realität aber häufig weniger. Methoden, die einst Erfolg versprachen, geraten an Ihre Grenzen und wen soll es da wundern, wenn ein junger Mensch das Studium der Ausbildung vorzieht? Kommt nach der Gang zur Hochschule der eigenen Entfaltung viel mehr entgegen als das Erlernen einer beruflichen Tätigkeit nach Schema F? Neben bekannten Faktoren, wie dem Wunsch nach europäischer Harmonisierung oder aber den Veränderungen in den Anforderungsprofilen, ist diese Entwicklung ein weiterer Grund dafür, dass heute ca. 57% eines Geburtsjahrganges studieren und nur noch weitaus weniger junge Menschen für eine klassische Ausbildung zur Verfügung stehen. Eine Entwicklung, die zwar nicht nur, aber eben auch mit dem Selbstbild zu tun hat, das in der einen Welt eine Aufwertung erfährt, die in der anderen aber nicht zu erwarten ist.

Ohne den Menschen kann das Gemeinwesen allerdings nicht funktionieren, um ihn aber zu erreichen sowie zu motivieren, muss er auch verstanden werden. Wird er das, im Kontext einer neuen Zeit, auch?

Tatsächlich sind die aktuellen Formen der Ausbildungen, auf den individualisierten Homo stimulus, der oft König in der eigenen Welt ist, nicht selten nur unzureichend vorbereitet. Die Folgen sind hohe Abbruchquoten, in der Pflege sind es beispielsweise fast 1/3 der Anfänger, und eine zunehmende Diskrepanz zwischen gesellschaftlichem Nutzen des Berufes und dessen Ansehen.  

Doch auch fertige Kräfte bleiben von den Einwirkungen einer neuen Zeit nicht unbeeinflusst, sondern sie fördern auch bei Ihnen das Gefühl einer Identifikationsdissonanz zwischen einer virtuellen Welt, in der Bedürfnisse unmittelbar erfüllt werden, in der sie der Mittelpunkt sind und der eigenen beruflichen Tätigkeit, die oft nicht die notwendige Wertschätzung erhält.

Um den Bedarf an Fachkräften für die Zukunft sichern zu können, erscheint es daher notwendig zu untersuchen, mit welchen konkreten Einflüssen Auszubildende in der Pflege im 21. Jahrhundert konfrontiert werden, wie diese sich auf Persönlichkeit, Verhalten und Kompetenzen auswirken und wie mit ihnen umzugehen ist.

Das hat beispielsweise die Erich von Werner Gesellschaft, eine Einrichtung für Zeitfragen, in einer Publikation für ein besonderes kritisches Ausbildungsfeld, das der Pflege, getan und die Ergebnisse sind ganz eindeutig: Die Ausbildung muss sich an der Lebenswirklichkeit der potentiellen Auszubildenden orientieren und daher teilweise umstrukturiert werden.

Daher schlägt die Erich von Werner Gesellschaft die Integration eines Pflegeausbildungsbelohnungssystemen (PABS) oder generell von Ausbildungsbelohnungssystemen (ABS) vor, um den Veränderungen Rechnung zu tragen. Die Konditionierung auf schnelle Reize oder gar Belohnungen braucht ein Äquivalent in der Ausbildung. Erfolge müssen schneller gemessen, verwertet und honoriert werden.

Ein ABS würde die beschriebenen Mechanismen sowie die gesellschaftlichen Wirklichkeiten daher nutzen, um die Realität des Einzelnen mit der Realität des Berufs näher zusammenzubringen und eine Dissonanz zu vermeiden, in dem es ebenfalls unmittelbar Ausbildungsfortschritte belohnt und anreizt. Dieses würde zweifellos zahlreiche Umstrukturierungen und Reformen bedürfen, jedoch bleibt die Frage nach einer Alternative? Ist denn der Weg nicht bereits vorgezeichnet und sind die Lücken nicht bereits Realität?

Gewiss, am Ende ist auch ein ABS nur ein Baustein von vielen, aber wer könnte es sich leisten, diesen zu ignorieren?

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/subjektivitaet/wie-ausbildungen-wieder-attraktiver-werden-koennen/

aktuell auf taz.de

kommentare