Siehe zur Vorgeschichte der nächtlichen Entscheidung meinen gestrigen Artikel (taz-Blogs vom 18.04.2025).
„Die Anwälte mehrerer bereits abgeschobener Venezolaner hatten zuvor erklärt, ihre Mandanten seien keine Mitglieder der Bande ‚Tren de Aragua‘ und hätten keine Straftaten begangen.“
Zum Beispiel die tagesschau schreibt: „Die Anwälte mehrerer bereits abgeschobener Venezolaner hatten zuvor erklärt, ihre Mandanten seien keine Mitglieder der Bande ‚Tren de Aragua‘ und hätten keine Straftaten begangen.“
Das ist zutreffend, aber das heißt nicht, daß sich der Supreme Court dieser Auffassung bzw. der entsprechenden Auffassung in Bezug auf die jetzt von Abschiebung Bedrohten mit seiner neuen Entscheidung (bereits) angeschlossen hätte.
Die nächtliche Entscheidung ist nämlich in der Tat nur eine vorläufige, wie die tagesschau durchaus zutreffend schreibt, aber vielleicht stärker betont werden sollte: „Der Oberste Gerichtshof der USA hat die Abschiebung mehrerer venezolanischer Männer in Einwanderungshaft vorübergehend ausgesetzt.“ (Hv. hinzugefügt)
„Der Oberste Gerichtshof gab keine Auskunft darüber, wie viel Zeit den Migranten nun gegeben werden soll.“
Außerdem heißt es in der tagesschau-Meldung: „Der Oberste Gerichtshof gab keine Auskunft darüber, wie viel Zeit den Migranten nun gegeben werden soll.“
Zum Beispiel der Tagesspiegel verwendet den Satz ebenfalls, aber außerdem auch noch den in der entsprechenden (wohl: AfP [vgl. Berliner Morgenpost]-)Agenturmeldung anscheinend davor stehenden Satz:
„Anwälte der American Civil Liberties Union (ACLU) hatten am Freitag bei mehreren Gerichten, darunter dem Obersten Gerichtshof, Dringlichkeitsanträge eingereicht. Zuvor hatten sie berichtet, dass einige der Männer bereits in Busse gebracht und ihnen die Abschiebung angekündigt worden sei. Die ACLU erklärte, dass die Männer aufgrund der raschen Entwicklung keine realistische Chance hätten, ihre Abschiebung anzufechten, wie dies der Oberste Gerichtshof verlangt hatte. Der Oberste Gerichtshof gab keine Auskunft darüber, wie viel Zeit den Migranten nun gegeben werden soll.“
(https://www.tagesspiegel.de/internationales/schlappe-fur-trump-oberstes-gericht-der-usa-setzt-abschiebung-von-venezolanern-aus-13564702.html)
Damit verstehen wir jetzt auch den Satz, auf den sich die tagesschau beschränkt („Der Oberste Gerichtshof gab keine Auskunft darüber, wie viel Zeit den Migranten nun gegeben werden soll.“): Der Satz ist zwar in Bezug auf die jetzige Entscheidung ebenfalls zutreffend, aber er bezieht sich im richtigen Kontext auf die erste Tren de Aragua-Entscheidung von Montag, den 7. April. Dort hieß:
„[…] AEA detainees must receive notice after the date of this order that they are subject to removal under the Act. The notice must be afforded within a reasonable time and in such a manner as will allow them to actually seek habeas relief in the proper venue before such removal occurs.“
(https://www.supremecourt.gov/opinions/24pdf/24a931_2c83.pdf, S. 3)
Damit verstehen wir jetzt des weiteren auch, worum sich der aktuelle Streit dreht: Um die Frage, was „reasonable time“ konkret bedeutet.
Diese Frage hat der Supreme Court aber – wie bereits angedeutet – auch in seiner Entscheidung von heute Nacht (sie erging tatsächlich zur US-Nachtzeit, kurz vor 1 Uhr – also zur mitteleuropäischen FrühaufsteherInnen-Zeit) noch nicht beantwortet.
Damit verstehen wir jetzt auch, inwiefern bzw. warum die nächtliche Entscheidung vorläufig ist: Sie dient erst einmal nur dazu, ausreichend Zeit zu schaffen, um die klären, wievel Zeit von Abschiebung Bedrohten zu gewähren ist, um ihre drohende Abschiebung juristisch anzugreifen.
(Alle weiteren Fragen [Sind die Bedrohten Tren de Argua-Mitglieder? Wendet die Trump-Regierung den Alien Enemies Act zurecht auf Tren de Aragua an? usw.] sind im Moment also noch nicht rechtskräftig beantwortet – und der Supreme Court hat sich mit ihnen in seinen beiden Entscheidungen noch gar nicht befaßt.)
Im Antrag, über den der Supreme Court heute Nacht entschieden hat, hieß es:
„At a minimum, this Court should grant an immediate administrative injunction in order to preserve the status quo while it considers the application.“
(https://www.supremecourt.gov/DocketPDF/24/24A1007/356063/20250418172902261_2025.04.18%20AARP%20Application.pdf, S. 26)
Mehr als über dieses „Minimum“ ist noch nicht entschieden worden.
„Eine Gruppe venezolanischer Häftlinge darf vorerst nicht abgeschoben werden.“
Des weiteren heißt es in dem tagesschau-Artikel: „Eine Gruppe venezolanischer Häftlinge darf vorerst nicht abgeschoben werden.“
Warum ein „Gruppe“? Und welche „Gruppe“? Weil der Supreme Court am 7. Apil entschieden hatte:
„we hold that venue lies in the district of confinement.“
(https://www.supremecourt.gov/opinions/24pdf/24a931_2c83.pdf, S. 3 unten / 4 oben; s.a. bereits S. 2)
Der Supreme Court-Entscheidung von heute ging ein Verfahren vor dem District Court für Northern District of Texas voraus – und demgemäß geht es um die dort Inhaftierten. In der nächtlichen Supreme Court-Entscheidung heißt es:
„The Government is directed not to remove any member of the putative class of detainees from the United States until further order of this Court.“
(https://www.supremecourt.gov/orders/courtorders/041925zr_c18e.pdf; Hv. hinzugefügt)
Und vor dem District Court für Northern District of Texas war u.a. beantragt worden:
„an order certifying a class in this matter as follows: ‚All noncitizens in custody in the Northern District of Texas who were, are, or will be subject to the March 2025 Presidential Proclamation entitled ›Invocation of the Alien Enemies Act Regarding the Invasion of the United States by Tren De Aragua‹ and/or its implementation.'“
(https://storage.courtlistener.com/recap/gov.uscourts.txnd.402915/gov.uscourts.txnd.402915.3.0.pdf, S. 1; Hv. hinzugefügt)
„Die konservativen Richter Clarence Thomas und Samuel Alito widersprachen der Entscheidung öffentlich.“
Unter anderem im Tagesspiegel heißt es: „Die konservativen Richter Clarence Thomas und Samuel Alito widersprachen der Entscheidung öffentlich.“
Das „widersprachen […] öffentlich“ bedeutet nicht, daß sie sich außerhalb des gerichtlichen Verfahrens gegen die Gerichtsmehrheit gestellt hätten; vielmehr geht der deutsch-sprachige Satz anscheinend auf folgenden Satz im englishchen-sprachigen Dienst der Nachrichtenagentur Reuters zurück:
„Conservative Justices Clarence Thomas and Samuel Alito publicly dissented from the decision, issued around 12:55 a.m. (0455 GMT).“
(https://www.reuters.com/world/us/venezuelan-migrants-told-imminent-deportation-under-us-wartime-law-2025-04-18/; Hv. hinzugfügt)
Der vorgehende Satz in der Reuters-Meldung lautet: „‚The Government is directed not to remove any member of the putative class of detainees from the United States until further order of this Court,‘ the justices said in a brief, unsigned decision.“
Es geht also nur darum, daß das Abstimmungsverhalten von Alito und Thomas in der Entscheidung genannt wird (und Alito außerdem angekündigte, eine schriftliche Begründung dafür zu schreiben):
„Justice Thomas and Justice Alito dissent from the Court’s order. Statement from Justice Alito to follow.“
(https://www.supremecourt.gov/orders/courtorders/041925zr_c18e.pdf)
Es geht also nur um ein abweichendes oder Sondervotum (dissenting vote) der beiden Richter – etwas, das auch bei deutschen Verfassungsgerichten ab und an vorkommt und im angelsächsischen Rechtskreis auch bei den unteren Gerichten üblich ist.
Aber was bedeutet in dem Zusammenhang nun das Wort „öffentlich“? Es erklärt sich aus dem Umstand, daß etwaige Nein-Stimmen und die etwaigen Begründung dafür zwar veröffentlicht werden können, aber nicht müssen.
Das heißt in Bezug auf den neunköpfigen US-Supreme Court: Sofern kein Abstimmungsergebnis veröffentlicht wird, wissen wir (allenfalls), daß mindestens 5 RichterInnen dafür und maximal vier dagegen gestimmt haben. (Ob auch Konstellationen möglich sind, in denen z.B. vier RichterInnen für Position 1, zwei RichterInnen für Position 2 und drei RichterInnen für drei weitere Positionen stimmen – und sich dann vier RichterInnen mit relativer Mehrheit durchsetzen -, weiß ich nicht.)
Das heißt: Auch, ob es tatsächlich so ist, wie der epd schreibt:
„Der nur sechs Sätze lange Richterspruch am Samstag hat nicht klargemacht, wie lange die Flüge ausgesetzt werden sollen. Sieben der neun Richterinnen und Richter stimmten für das Urteil, zwei dagegen.“
(https://www.evangelisch.de/inhalte/241977/19-04-2025/oberstes-us-gericht-stoppt-abschiebungen-von-venezolanern),
wissen wir nicht sicher. Theoretisch kann es – mangels Veröffentlichung eines Abstimmungsergebnisses – mehr die beiden Nein-Stimmen von Alito und Thomas gegeben haben.
Aber nehmen wir mal an, daß es tatsächlich nur diese zwei Nein-Stimmen gab – dann hätten alle drei von Trump nominierten RichterInnen diesmal gegen die Trump-Regierung gestimmt, denn Alito wurde 2005 von George W. Bush und Thomas wurde 1991 von George H.W. Bush als Supreme Court-Richter nominiert.
„Verfassungskrise“?
Sowohl in der tagesschau– als auch in der Tagesspiegel-Variante der Meldung heißt es:
„Der Fall wirft die Frage auf, ob sich die Trump-Regierung an die vom Obersten Gerichtshof gesetzten Grenzen hält. Er birgt das Risiko eines erheblichen Konflikts zwischen den beiden gleichberechtigten Gewalten und möglicherweise sogar einer umfassenden Verfassungskrise.“
Auch das stammt aus dem englisch-sprachigen Dienst von Reuters:
„The case raises questions about the Trump administration’s adherence to limits set by the Supreme Court. It carries the risk of a significant clash between the two coequal branches of government and potentially a full-blown constitutional crisis.“
(https://www.reuters.com/world/us/venezuelan-migrants-told-imminent-deportation-under-us-wartime-law-2025-04-18/)
Der Begriff „Verfassungskrise“ ist auch dort nicht erläutert. Ich hatte meinerseits – bereits im Februar – auf die Frage von Achim Schill (für das Schweizer untergrundblättle),
„Ein weiterer Begriff, der in der aktuellen Diskussion verwendet wird, ist ‚Verfassungskrise‘. Kann der vor deiner Begriffsstrenge bestehen?“
geantwortet:
„Jedenfalls ist es kein juristischer Begriff – vielleicht ein politikwissenschaftlicher; weiss ich nicht. Wenn wir davon ausgehen, dass die Gerichte, die gegen Trump entschieden haben, und diejenigen, die die Gerichtsverfahren eingeleitet haben, Recht haben, dann scheint mir der Ausdruck ‚Verfassungskrise‘ eher verharmlosend zu sein. Nach meinem Sprachgefühl würde ich sagen: Eine Verfassungskrise ist schon dann gegeben, wenn eine Situation eintritt, die objektiv in der Verfassung nicht oder nicht eindeutig geregelt ist (z.B., weil die Situation bei der Verfassungsgebung nicht vorausgesehen wurde) – und nun umstritten ist, wie gehandelt werden darf oder muss.
Hier haben wir es aber damit zu tun, dass die eine Seite ganz genau zu wissen meint, was in der Verfassung drinsteht – und die andere Seite trotzdem das Gegenteil macht. Nehmen wir an, die Verfassung ist hinsichtlich der jetzt strittigen Fragen tatsächlich eindeutig, und die Regierung macht trotzdem – und entgegen Gerichtsentscheidungen – das Gegenteil, dann wäre ‚Verfassungskrise‘ m.E. ein verharmlosender Ausdruck.“
(Administrativer Staatsstreich – autogolpe – Verfassungskrise. Genus proximum et differentia specifica – Faschismus, rule of law und Rechtsstaat (Teil II); https://www.untergrund-blättle.ch/politik/theorie/die-usa-unter-trump-und-musk-teil-2-008916.html)
Siehe auch noch:
Roger Parloff, Some notes on this morning’s remarkable emergency stay order granted by SCOTUS
https://x.com/rparloff/status/1913576155254337949 (thread)
Steve Vladeck, The Supreme Court’s Late-Night Alien Enemy Act Intervention. Just before 1:00 a.m., the justices (aggressively) stepped back into the Alien Enemy Act litigation—in a decision suggesting that a majority understands that these are no longer normal circumstances
https://www.stevevladeck.com/p/144-the-supreme-courts-late-night