Den gleich folgenden Brief habe ich vor fast genau einem Jahr geschrieben. Es sollte in erster Linie um den Brexit gehen – der stand da gerade noch auf der Kippe.
Und jetzt?
„EUrsula“ von der Leyen und Boris Johnson schaukeln zwar zwangsläufig (noch) auf der gleichen Schaukel, aber jeweils mit dem Blick in die entgegengesetzte Richtung: Nö, ich mag meine eigene Idee lieber, sagten beide sinngemäßg letzten Mittwoch nach ihrem gemeinsamen Dinner.
Was hat sich verändert in einem Jahr politischer (Nicht-/Weiter-/Zurück-)Entwicklungen? Warum nochmal hatte ich speziell vor einem Jahr was zum Brexit aufgeschrieben?
Ach ja, es ging auch gleichzeitig, oder noch mehr, um den zähneknirschenden Prozess meiner Bachelorarbeit, die irgendwie nie zufriedenstellend fertig werden wollte. Ich wollte scheinbar weit entfernte Thematiken miteinander verbinden und die These von einer gewissen Universalität und Überzeitlichkeit individueller und gesellschaftlicher Probleme aufstellen – auch so im Sinne von Verbindungen vom Einzelnen zum Ganzen und zurück: Mikro-Makro-Blablabla!
Jetzt, ein Jahr später, sehe ich den Konflikt von Projekten, die ihre innewohnende Problematik erst in der Durchführung offenbaren, erschreckend passend zugeschnitten auf den, seit über 40 Jahren geplanten, A49-Ausbau am Dannenröder Forst – und auf alle Projekte Andi Scheuers im Allgemeinen.
In 40 Jahren, gibt es da nicht gewissen Wandel? Vielleicht auch innerhalb eines Jahres? Speziell 2020?! Speziell mit so ein paar neuen Erkenntnissen über das Klima und über halbwegs bis verdammt drängende globale Kooperation?
Hmm, vielleicht gilt das nicht, wenn steinweiße Männer schon verkalkte Verträge unterschrieben haben? Das muss doch was bedeuten, dieses Dokumenten-Dings, dieser Text von gestern…
Oder nicht?
Leute! Werte sind auch nur Worte, die den Wandel in der Welt miteinbeziehen müssen, um gültig zu bleiben. (Das hat so oder so ähnlich bestimmt auch mal Ludwig Wittgenstein formuliert…)
Der (eventuell) universell übertragbare Grundkonflikt, den ich in dem folgenden, ein Jahr alten Text darstellen wollte, lässt sich auch kurz auf eine einfache Formel herunterbrechen:
Es ist unmöglich, jemals mit irgendetwas fertig zu werden.
Aber so geht das ausführlich:
Liebes Ego,
Was willst du eigentlich? Von der anfänglichen Vision weiterträumen oder mit den Bedingungen des Hier-und-Jetzt handeln?
Wir hatten so große Ziele… Und was ist davon übriggeblieben?
Der Prozess der Auseinandersetzung muss nicht umsonst gewesen sein, war doch nicht umsonst, wenn man daraus lernt, dass man sich geirrt hat und neu ansetzen kann.
Man hat sich verkalkuliert. Okay. Passiert.
Überall Türen, die nicht aufgingen, oder Türen, die zu weit weg schienen. Also bleibst du halt zuhause, wo du dich auskennst. Man ist schon so weit gekommen, da will man doch nicht mehr zu weit vom Weg abkommen. Man war gestresst, gelangweilt, motiviert, verzweifelt, stolz, und niemals ganz zufrieden mit sich. Das kommt ja bestimmt später, der auflösende Moment der erlösenden Lösung.
All die Monate all die Mühe mit den ewig gleichen Sachen und die anfängliche Idee hat sich stetig weiterentwickelt – oder völlig verändert. Am Ende wurde es – mal wieder – viel zu knapp vor der Deadline.
Man hat sich sowas von verkalkuliert.
Man war ein einziger Gedanke, endlich fertigzuwerden – und wurde nebenbei süchtig nach den Dingen, die man schon so oft geschworen hatte, loszuwerden.
Das riesige Konstrukt, das man sich erarbeitet hat, wurde zu mehr als der scheinbar simplen Idee, mit der man damals angefangen hatte.
Um was sollte es nochmal gehen? Man wollte etwas Sinnvolles machen. Der Weg zum fertigen Werk konnte nicht anders als mühsam sein. Aber es gibt ja Kaffee, Schokolade und Alkohol.
Es muss ja nicht mal die eigene Art sein, so fieberhaft an dem einen Thema zu hängen. Aber dann hat man etwas vor Augen. Etwas Wichtiges! Ein Ziel. Einen Wandel. Zumindest erhofft man sich den, wenn man mit der Hauptsache erstmal durch sein wird. Und was dann? Was wird sich bis dahin noch auf dem Stapel des Unfertigen angehäuft haben?
Zu den finalen Wochen siehst du all deine kleinen Fehler umso mehr. Aber du willst einfach nur noch fertig werden. Kurz vor dem Ende ist alles ein Zittern, ein Rauschen, ein Verhandeln mit den eigenen Unzulänglichkeiten.
Wie geht es eigentlich unserem Selbstbewusstsein?
Was mache ich eigentlich, wenn ich mich nicht mehr an dieses eine Projekt klammern muss? Wer bin ich nochmal nach Feierabend?
Kieran Thomas,
Köln, 09.12.2019
Meine nachsichtige Ode an die persönliche Sturheit, an den Stolz – eine Art Selbsthilfe-Text.
Aber warum fällt uns differenzierte Selbstreflexion so viel schwerer als sture Prinzipientreue? Vielleicht weil unser menschliches Gehirn zur Einordnung überfordernder Realitätsfluten zwangsläufig auf Generalisierungen angewiesen ist. Und am liebsten nur Schubladen füllen möchte.
Bis sie voll sind. Und dann die nächste Schublade angehen.
Das scheint auch oft zu klappen, wenn wir das Projekt, das wir angehen, genug abstrahieren. Aber sobald das Problem sich mit Realität konfrontiert sieht, klafft der Abgrund zwischen Erwartung und Umsetzbarkeit. Erst war da die große Idee von Unabhängigkeit bei Boris und co. Der Prozess würde „quick and easy“ gehen. Und dann bleibt doch ewig die Frage, wie nah genau man seinen Nachbarn noch bleiben will? Wie soll die Zukunft dieser „Beziehung“ aussehen?
Wer einen Garten anlegt, will damit ja nicht morgen fertig sein. Auch nicht nächstes Jahr. Jemals?
Warum macht Mensch das dann überhaupt?
Einer der einflussreichsten Philosophen der Geschichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, stellte die Theorie vom Ende der Geschichte, einer für ihn zwangsläufigen Gipfelung der zivilisatorischen Weiterentwicklung, auf: die Realisierung des „Endzwecks“ der Weltgeschichte. Das war Anfang des 19. JH.
Jetzt, spätestens global fühlbar gemacht von der andauernden Corona-Pandemie, erkennen endlich viele, das die Idee vom Ende der Geschichte endlich zu Ende ist.
Wir befinden uns eben in einem Prozess der Auseinandersetzung, immer noch und für immer. Und sogar unsere schöne Demokratie braucht Bewegung, sonst wird sie zu einer leeren Hülle.
Diese antreibende Sturheit, mit der Menschen Projekte angehen – ungeachtet von sich verändernden Realitäten – habe ich selbst besonders spüren dürfen in der Endphase meiner Bachelorarbeit. Und vor Kurzem dann auch im Danni – nicht nur bei den Bullen, auch bei mir. Ob Boris Johnson sie überhaupt noch spürt, so sehr die eine Richtung sein Leben bestimmen soll?
So objektiv wie Subjekte es eben nur sehen können, ist sie vor allem ein Fokus der Wahrnehmung.
Fokus auf „Get Brexit done“? Oder Fokus auf Studium fertig kriegen?
Fokus „Danni bleibt“? Oder Fokus „Danni räumen“?
Fokus 1,5 Grad? Oder vielleicht Fokus Pandemie?
Auch wenn Mensch es gut meint, und andere Menschen auf der gefühlt anderen Seite das gerade schlecht finden, wird da zwangsläufig ein ganzes System an Verbindungen ausgeklammert. Es geht halt um mehr…
Auch die Präsidentschaftswahl in den USA hat bisher keinen wirklichen Moment der Erleichterung geboten und den wird es auch wohl nicht mehr geben. Kein kollektives Aufatmen, dass das orange Kleinkind, das wahrscheinlich nie richtige Liebe erfahren hat, endlich weg ist aus dem Weißen Haus. Nö, der mobbt die Vernunft einfach weiter. Nur konsequent.
Der Amerikanische Traum war schon immer nichts als ein Traum. Und zeigt spätestens jetzt seine albträumige, realitätsferne Fratze. Dass nun wieder gerade die Polizei, als gewalttätige Exekutive veralteter Prinzipien, in den USA, sowie beispielsweise auch aktuell in Frankreich oder eben im Dannenröder Forst, eine tragende Rolle nationaler Unzufriedenheit spielt, ist vielleicht gar nicht die Schuld des einzelnen Polizei-Menschen per se.
Der Systemfehler ist da doch wohl wichtiger. Ein Ausdruck dessen, dass wir Recht und Richtigkeit immer noch am Gestern messen. Leider vernachlässigen die Rechtfertigungen von Rechtstaatlichkeit das Recht, auf einem heilen Planeten weiterleben zu wollen. Hmm…
Vielleicht haben wir das Recht auch gar nicht mehr verdient? Vielleicht haben wir es auch nie gehabt, weil Rechte eben auch nichts als Worte sind? Versprechungen, Vorstellungen von naturgegebenen Rechten? Hört sich irgendwie rechts an.
Naja, sogar „Natur“ ist nur ein Wort. Überraschung. Ein Wort, das sich irgendwann mal Menschen ausgedacht haben, um irgendwas abzugrenzen und wieder was anderes damit zu rechtfertigen.
Jetzt mal Worte beiseite.
Durchatmen.
Ernsthaft, einmal ein…
…und wieder ausatmen.
Was ist da?
Es ist halt so ein Gefühl.
Etwa ein Gefühl wie: Ich will das?
Und warum will ich das? Will ich das morgen immer noch oder dann was anderes? Was kann ich heute wollen, damit ich morgen und übermorgen immer noch wollen kann?
Menschenrechte? Klima-Ziele? Allein brauch ich die nicht.
Was können also wir wollen? Wie kriegen wir das hin, mal alle wieder an einem Tisch zu sitzen und über das zu reden, was wir alle wollen?
Darüber, wie es uns gerade geht. Und darüber, wo wir gemeinsam hinwollen. Und das muss auch keine Deadline haben. Alles gut. So schnell geht die Welt schon nicht unter. Wir reden einfach nächstes Mal wieder drüber, wenn wieder Zeit ist. Wir wollen ja doch nicht aufhören miteinander zu reden, oder?
Wir sitzen zusammen an diesem Tisch aus Zedernholz und schauen uns einfach schweigend in die Augen. Ja, es ist schon so was wie eine Beziehungskiste, die da rumpelt und mal wieder auf der Kippe steht. Nichts wirklich Neues. Wir kriegen das hin.
Wir sitzen ja im selben Boot oder eher sitzen wir in unseren Schreibtisch-Sesseln entspannt zuhause vor der Webcam in der Zoom-Konferenz. Und irgendwer pupst leise und atmet aus, weil der endlich den Stock aus seinem Arsch rausgekriegt hat. Yes! Just let it go! Alle lachen. Naja, nicht alle. Von manchen ist das wirklich nicht der Humor.
Aber okay. Zurück zum Thema. Worüber wollten wir heute nochmal reden? Ach ja! Dass der Brexit völliger Stuss war und London auch nach Austritt jederzeit wieder in die EU zurückkommen kann?
Klar, gerne. Wir müssen nicht nachtragend sein.
Lieber Boris, und auch lieber Donald, lieber Andi Scheuer, liebe toxische Männlichkeit per se und liebes Ego im Allgemeinen,
ihr habt es echt verkackt mit eurer Egonummer, mit eurer Fantasterei! Und echt viele andere damit unnötig in den Dreck mit hineingezogen.
Nicht cool! Aber wahrscheinlich habt ihr trotzdem gedacht, das Richtige getan zu haben. Und es ist ja nie zu spät, um nicht wenigstens zu versuchen, eure bzw. unsere Debakel wieder auszubügeln. Wird schwer, aber kriegen wir schon hin, wenn wir das gemeinsam angehen.
Wir sind auch nicht mehr böse auf euch – wenn ihr ab jetzt auch mal zuhört!
Ja, wir würden schon gerne sagen, dass wir es euch ja gesagt haben. Aber nein, das lassen wir.
Wir nehmen es nicht persönlich, das habt ihr ja schon getan. Das nächste Mal dann gerne unangenehme Gefühle ansprechen, bevor sie sich im kalkweißen Ego verfestigt haben.
Okay?
Mit freundlichen Grüßen,
Ursula Unwichtig
Brüssel, 11.12.2020