vonutopiensucht 31.03.2021

Utopiensucht

Alltagsbanalität trifft auf sprachliche Vielfalt. Und wie Achtsamkeit der Gegenwart die Socken auszieht.

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Ich hab dich fast wieder eingeholt.

Ich wollte mir doch nur die Vögel anschauen. Ein riesiger Kranich-Zug zieht über unsere Köpfe. Du hast auch kurz hochgeschaut, bist dann aber direkt weitergegangen. Deine immerbaren Füße in Sandalen, direkt durch das Rinnsal des kalten Baches. Dein Gesicht warm-lächelnd in der Frühlingssonne.

Die Kraniche machen hoch oben ihre Kranich-Geräusche. Ich bin versunken am Boden.

Der Bach kommt nur einige Meter weiter oben direkt aus dem Berg. Wir sind ungefähr 1000 Meter hoch. Der Bach ist eher noch ein Plätschern, das gerade frisch aus dem Gras sprießt. Ein Baby der Oberfläche. Ein spontanes, oder vielleicht doch geplantes Überquellen der Ressourcen. Sowas sieht mensch heutzutage selten. Genau wie Kraniche eigentlich. Heut muss ein besonderer Tag sein.

Du schaust zu mir zurück. Siehst auf meine Hände, die langsam schon die Karte auseinanderfalten.

Meine Hände machen das schon von allein, weil ich weiß, dass ich gleich, in ein paar Metern, nicht mehr weiterwissen werde.

„Können wir mal ohne Karte laufen?“, fragst du mich.

Ich glaube in deiner Stimme eine kaum von dir gekannte Emotion herauszuhören. Wie nennt man die nochmal?

Ich betrachte die Karte, aber eigentlich schau ich gerade nur durch sie hindurch. Wie wichtig ist mir die Karte? Sie ist doch nur eine Hilfe?!

„Da vorne kommt gleich eine ziemliche Weggabelung. Die Richtung, die wir dann nehmen, bestimmt schon stark unseren kompletten weiteren Weg. Nach der Wegkreuzung dann geht’s, dann können wir wirklich einfach laufen. Aber wollen wir hier nicht noch einmal gemeinsam schauen?“

Wortlos bleibst du im Wasser stehen. Schaust einmal in alle Richtungen, und am längsten über mich hinweg – in Richtung Westen, weiß ich. Ich drehe mich um und sehe so etwas wie eine weiße Nebelwand langsam auf uns zufließen. Du setzt dich hin, auf einen Stein, und schaust den wenigen Frühlingsblüten und Gräsern beim Verschwinden zu.

Ich ziehe meinen Rucksack aus und nehme meine Wasserflaschen raus.

„Ich füll mal auf.“

Bei unserem letzten Stopp an einem rostigen Rohr, wo das Wasser nur so rausströmte, wollte ich nicht auffüllen. Ich hatte auf der Karte eben diesen kleinen Bach hier eingezeichnet gesehen. Und von meiner letzten großen Wanderung, die sogar noch länger als diese hier war, weiß ich, dass das Wasser, je höher und näher du an der Quelle bist, so klarer ist es auch. Durchaus logisch.

Du wolltest da nichts von der Karte wissen: „Vielleicht gehen wir ja anders.“

Wir sind nicht anders gegangen. Wir sind genau den Weg gegangen, den ich seit gestern vorhatte zu gehen. Einmal sind wir eine Art Umweg gegangen, aber solange wir Richtung Osten gehen, können wir eigentlich nur dem Berggipfel näherkommen.

Und an der Gabelung, wo sich Gipfel ja oder nein entscheidet, sind wir jetzt angekommen.

Ich befülle meine beiden Wasserflaschen. 2,5 Liter hab ich jetzt. Reicht bis knapp morgen früh. Nach nachdenklichem Zögern öffnest du auch deine Flaschen, kippst sie erst aus und füllst sie dann wieder auf.

Die Sonne kommt gerade noch durch, von Südwesten her. Im Osten ist der Himmel noch blau wie ein richtiger Himmel. Heute sind schon ein paar Menschen unterwegs. Zwei kommen auf uns zu. Sie sind schick geschmückt mit brandneuem Outdoor-Post-Apokalypse-Zeugs, was es so gibt. Woher kommt das gerade? Woher kommt ihr gerade?

Wir halten gute zwei Meter Abstand, vielleicht drei, als sie an uns vorbeigehen. Und wir alle sagen robotisch „Hallo“, als sie schon fast vorbei sind.

Wir haben unsere Sachen noch von früher. Ich hab den gleichen Wanderrucksack seit dem Tag, als ich entschied, dass ich einen bräuchte. Das war wirklich auf einmal da, dieses Bedürfnis. Das war vorher nicht da. Vorher hatte ich nur mal eine Zeltnacht in einem Garten verbracht. Und eines Tages dann plötzlich: war jeder Fleck ein potenzieller Fleck zum Besetzen und Bleiben geworden!

Ich schaue den kleinen Bläschen in meiner Flasche beim Aufsteigen zu. Und suche im Wasser nach verdächtigen kleinen Tierchen. Nichts. Alles normal. Tiere zu sehen, das ist schon was Besonderes.

„Weißt du, mir wär das ja auch gar nicht so wichtig, zu wissen, wo wir denn genau langlaufen, wenn an den Bäumen Äpfel oder sonst was hängen würden oder wir sonst irgendwo Essen auftreiben könnten. Aber wir haben fast nichts mehr“, meine ich.

„Wir finden schon was. Lass uns einfach mal laufen. Wir sind doch hier rausgekommen, weil wir aus der Enge und den Zwängen rauswollten, oder? Also mich engt das ein, wenn auf unserem Weg hier, den wir gehen, links und rechts alles nach Planung riecht“, meinst du.

„Was sollen wir denn hier zu essen finden?“

„Keine Ahnung. Pilze?“

„Kennst du dich mit Pilzen aus?“

„Eine Freundin von hier hat gesagt, sie probiert einfach bei allen ein ganz kleines Stück. Und wenn sie nicht bitter oder sauer, sondern so ähnlich wie Champignons schmecken, dann sind sie okay.“

„Der Typ aus ‚Into the wild’ ist auch an einer falsch bestimmten Pflanze verreckt.“, erinnere ich mich.

„Pilze sind ja auch keine Pflanzen.“

Ich muss lächeln. Und trinke einen großen Schluck aus der bergkühlen Flüssigkeit. Jetzt erst merke ich, was für einen Durst ich hatte. Ich schaue durch das Wasser und die Flasche, sehe gerade noch das Sonnenlicht durchscheinen und mit einem Mal wird alles um uns herum dunkler – grau oder fast weiß. Ein leichter Wind rauscht zeitgleich heran und die Vögel hören prompt auf zu zwitschern. Meine nackten Beine kriegen Gänsehaut. Ich fühl mich plötzlich völlig abgekapselt von der Welt.

Kennst du das? Hab ich das laut gesagt?

„Magst du das Gefühl, nicht weiter zu wissen?“, frage ich.

„Ich wollte eigentlich mal genau dahin kommen, aber bisher hast du es ja immer für uns beide gewusst. Weißt du, vielleicht können wir nicht mehr zusammenlaufen, wenn du unbedingt wissen musst, wo es lang geht.“

„Ich weiß das doch auch nie komplett. Ich such nur nach Anhaltspunkten. Ich mag Karten. Wir können uns doch trotzdem frei entscheiden.“

„Entscheiden? Du meinst zwischen den zwei Alternativ-Routen auf der Karte? Das geht mir schon zu weit. Ich hatte, als wir letztens losgelaufen sind, dieses Gefühl, dem ich einfach nur folgen wollte. Danach bin ich immer nur dir gefolgt. Ich muss… Nein, ich will: einfach mal laufen.“

Dann hast du deinen Rucksack schon aufgesetzt und gehst zügig los. Du läufst ins Weiß. So hab ich dich noch nie erlebt. Jetzt kann ich dich schon fast gar nicht mehr sehen. Der Hang ist eine diffuse Kapsel umringt von Wasserdampf geworden. Die Steigung ist kaum mehr zu bestimmen. Können wir dem Nebel entgehen? Vielleicht da, wo der Gipfel sein müsste, da, wo gerad die zwei anderen Wanderer im Weiß verschwunden sind?

„Kann ich dir folgen?“, rufe ich in den Nebel.

Ich sehe dich nicht mehr. Es ist, als hätten wir uns schon seit Tagen immer mehr voneinander entfernt, und jetzt bist du wirklich weg. Und ich hätte gedacht, ich würde dich erst nächsten Mittwoch wieder verlassen. Wieder Richtung Norden. Wieder Richtung Stadt.

Gibt es außerhalb der Hochgebirge überhaupt noch Quellen? Gefühlt gibt es überall nur noch Menschen. Überall, wo es Menschen noch geben kann. So gut wie alle gerad nur innerhalb der Ländergrenzen, die man nur auf Karten sehen kann.

Damit hatten wenige gerechnet. Dass es so weitergehen würde. Und ich hatte echt nicht gedacht, die Berge noch einmal wieder zu sehen. Ich hatte schon gezweifelt, ob die Berge überhaupt noch da wären. Und dann sind wir beide einfach mal los. Mit dem Rad gen Süden. Und das alles doch nur für so ein vages Gefühl von Freiheit. Für dieses Gefühl, für das es eigentlich kein Wort geben kann, und das ich dachte, verloren zu haben. Vielleicht ist es ja gar nicht Freiheit, die ich suche?

Ich rufe noch einmal lauter in das Weiß hinein: „Kann ich dir folgen?“

Lange Sekunden Stille…

„Kannst du das!?“

Mit deiner Antwort hatte ich gar nicht mehr gerechnet. Aber sie kommt schon von gefühlt hundert Metern Entfernung, so gerade hörbar wie ein dumpfes Flüstern.

Was ist, wenn ich dich schon verloren habe?

Ich ziehe meinen Rucksack auf und trabe den steinigen Weg entlang. Ich schaue den Hang hinunter. Ob es 1.000 oder 10 Meter sind, die ich herabschaue, könnte niemand gerade sagen.

Ich komme an die Wegkreuzung. Sehen kann ich dich eh nicht. Zuerst will ich wieder rufen. Dann denke ich nochmal nach.

Was will ich hier eigentlich? Was willst du hier eigentlich? Wollen wir vielleicht doch im Grunde das gleiche?

Wenn ich alle Störfaktoren ausschalte: Stille. Weiß. Ein bisschen Wiese vor mir und drei Wege, die ich nehmen kann. Wenn ich einen Moment wirklich zuhöre, was mir dieser Ort zu sagen hat, dann müsste ich doch wissen, wo du hin…

Wo ich hinwill. Ob ich überhaupt irgendwo anders hinwill.

Willst du mich überhaupt noch bei dir haben? Ist das die entscheidende Frage? Was ist, wenn nicht, und ich hab trotzdem den gleichen Weg wie du gewählt?

Was ist, wenn ich rechts laufe und du den Weg zum Gipfel genommen hast, und dich verläufst? Kannst du dich überhaupt verlaufen, wenn du gar kein bestimmtes Ziel hast?

Ein Windzug schlägt mir sanft auf die Ohren und den Mund. Ein sanftes „Halt die Klappe“. Und ich schließe die Augen und versuche zuzuhören.

Nach ein paar Sekunden ohne Worte im Kopf fühle ich da fast sowas wie einen Kompass. So zwischen Herz und Bauch. Und der zeigt ganz klar geradeaus. Ich frag mich noch kurz, ob der das einfach immer tut. Aber schon laufen meine Füße vorwärts.

Wenn ich dich finde.

Wenn ich dich nicht finde.

Dann ist das halt so. Ich kann nicht alles kontrollieren. Die Karte hat mir vor allem das Gefühl gegeben, es zu können. Es war ja aber nicht der Weg, den ich kontrolliert habe. Eine Karte ist doch nicht die Wirklichkeit. Ich glaube, ich hab vor allem mein Gefühl von Kontrolle kontrolliert.

Anfangs geht der Weg noch den Hang entlang, doch langsam geht es abwärts. Immer die weiße Nebelkuppel um mich herum. Und Wind. Das Wiesengras wird immer weniger. Da vor mir scheint gleich so etwas wie eine Schlucht zu kommen. Um sie herum wachsen kleine Douglasien und sichern den Abhang. Seit welchen gefühlten Ewigkeiten hab ich keine Bäume mehr gesehen? Wieso war ich 95 % meines Lebens nur in dichtbesiedelten Städten unterwegs?

Mein Kopf findet viele konfuse Antworten, aber keine davon kann mir gerade weiterhelfen.

Ein paar Meter weiter wachsen ein paar andere Nadelbäume und an einem der Stümpfe sehe ich etwas auffällig Helles rumliegen. Eine fast perfekt runde Oberfläche. Das muss doch menschengemacht sein! Aber es ist ein Pilz.

Ich bemerke, dass mein Puls sich jetzt erst langsam beruhigt. Ich muss gerannt sein. Ich nehme mir nun die Zeit und schaue den Pilz mal genauer an. Und probiere ihn einfach. Wie du es mir gesagt hast, wie es dir jemand gesagt hat: nur ein ganz kleines Stück, und dann wieder ausspucken.

Schmeckt okay. Schmeckt fast nach Champignon, oder nein, eher nach Steinpilz! Sieht sogar irgendwie aus wie ein Steinpilz, glaub ich. Ich freu mich wie ein Keks und will das sofort jemandem zeigen. Schaue mich um.

Dann höre ich es einige Meter weiter knacksen. Aus der Mischung aus Weiß und dunklen Douglasienzweigen kommt langsam etwas raus, erst ein großer Rucksack, und dann ein Mensch mit einem Haufen Pilze in der Hand.

Du lächelst mich an, nein du lachst sogar. Ich kaue noch, aber muss mehr als schmunzeln. Wir umarmen uns. Zwei, drei Sekunden länger als zu einer Begrüßung, wie sie einmal normal gewesen ist. In dieser Welt, in der sich Menschen nicht mehr die Hände schütteln und sich nur noch zu ganz besonderen Gelegenheiten mal umarmen.

Das ist was Besonderes gerade. Und es ist kalt und still und ich weiß gar nicht mehr, wo ich bin. Wollte ich vielleicht genau hierhin?

Wir sammeln einen dicken Haufen Pilze.

„Machen wir heut Abend ein Feuer?“

Ein paar Stunden später oder wie viel auch immer, finden wir aus dem Nebel heraus. Und dicht an dem Berghang zum langen, riesigen Tal hin lichtet sich langsam der Blick und wir finden sogar so etwas wie eine Steinhütte.

1776 steht auf dem Eingangsschild. Die ist ja gar nicht so alt. Das Dach ist weg, aber die Wände stehen noch. Am Wegesrand findest du noch ein paar Hagebutten und zeigst mir, wie sie richtig ausgequetscht werden.

„Wieso sind Hagebutten an solchen abgelegenen Orten zu finden?“

„Manche Dinge sind halt widerstandsfähiger, als sie scheinen.“

„So wie Menschen?“

Du musst lachen und sagst: „Ich finde Menschen sehen ja schon eher verletzlich aus.“

„Wir haben einen langen Weg hinter uns gebracht“, sage ich viel zu episch. Schaue auf die geduldig brutzelnden Pilze über dem flackernden Feuer, dessen Licht in Schattenspielen mit der Felswand spricht, und finde das doch irgendwie episch.

„Ich fühle mich schon etwas steinzeitlich. Hm… Wie fühlten sich eigentlich die ersten Menschen in der Steinzeit? Genauso wie wir? Nur ohne die ganzen Worte im Kopf?“

„Ich glaube, Sprache gibt es schon länger als Feuerbändiger. Ich würde aber auch mal vermuten, früher haben die Menschen sich die Welt noch etwas einfacher gemacht.“

Wir sagen lange nichts. Feuer und Schatten sprechen zu mir in einer Sprache, die gleichzeitig vertraut und unverständlich ist. In den Flammen brennt die Karte, die als Zündmaterial diente. Zur Not haben wir ja trotzdem Handys, auf die wir beide in diesen Berg-Tagen nicht einmal geschaut hatten.

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