Es bedarf besonderer Ereignisse, um das Neue zu spüren, zu hören, zu fühlen und zu schmecken. Die Menschen auf den Bäumen im Dannenröder Wald haben ein solches Ereignis geschaffen. Mit ihrer Entschlossenheit, ihrer Verzweiflung, ihrem Mut. Sie haben die Kontinuität unterbrochen. Nicht nur jene Kontinuität, die zehntausend Autobahnkilometern noch ein paar hinzufügt und dabei einen Wald unter sich begräbt. Auch die beruhigende Kontinuität der Protestbewegungen: Wyhl 1976, Startbahn West 1980, Brokdorf 1981, kennen wir alles. Kennen wir nicht. Wenn wir genau hinsehen, können wir den Sprung bemerken, der uns in eine neue Wirklichkeit befördert hat.
Nicht nur, dass dort Menschen ihre Behausungen durch atemberaubende Kletterkünste geschützt haben und die Räumung deshalb Wochen dauert (die Hüttendörfer wurden sonst innerhalb von Stunden plattgewalzt). Auch die „andere Seite“, die von der Gesellschaft eingesetzte Polizei hat enorm gelernt. Die jungen Frauen und Männer führen einen bisher nie gesehenen, akrobatisch halsbrecherischen Kampf um die Lufthoheit in 30 Meter Höhe auf. Dazu gehört auch, dass die „Aktivisti“ eben jener rechtsstaatlichen Ordnung und ihren HüterInnen, die sie herausfordern, ihr nacktes Leben anvertrauen. Und eine ganze Nation hofft, dass sie mit diesem Vertrauen Recht behalten, dass es gut geht. Es sind ikonische Bilder entstanden. Aber das ist nur die sichtbare Außenseite.
Um die eigentliche Veränderung wahrzunehmen, muss man zuhören und versuchen, zu verstehen. Die Grünen sind dazu gezwungen – schon weil sie in Hessen mitregieren und durch Pech zu den Adressaten des Protests geworden sind.
Aber was ist mit der Mehrheitsgesellschaft, nicht nur den Parteien und Ministerien, sondern auch den Unternehmensleitungen und Verbandsfunktionären?
Allen Grund für sorgfältiges Hinsehen hätte z. B. der Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestags in Berlin. Sieben Jahrzehnte lang haben die Abgeordneten dort um mehr Geld für mehr Straßen und Autobahnen gestritten. Die Gewinner präsentierten sich stolz in ihren Wahlkreisen, die Verlierer schimpften auf die Bayern-Lobby, die sich wieder den Löwenanteil gesichert hatte. Vorbei, vorbei. Plötzlich gibt es eine neue Realität. Wir brauchen keine neuen Autobahnen, heißt die Warnung von den Bäumen. Behaltet die Milliarden, hört lieber auf zu bauen ist die Stimmung in der Öffentlichkeit. Wer noch Projekte in der Pipeline hat (es gibt davon mehr als genug), darf sich Sorgen machen.
Oder die Vorstandsvorsitzenden von VW, Daimler und BMW. Denen, die da oben auf den Traversen turnen, hätten ihre Eltern vor 30 Jahren noch einen Golf mit Schleife zum Einserabitur vor die Tür gestellt. Vorbei. Jetzt feiern sie das Erwachsenwerden mit der digital geplanten Fahrt mit Fahrrad und „Umweltverbund“. Die SUV-Mode der Konzerne halten sie für ein Verbrechen. Dort anheuern? Ausgeschlossen.
Oder die Landwirtschaftsministerin und die Bauernverbände. Die KletterkünstlerInnen mit ihrem enormen täglichen Energiebedarf leben längst vegan. Sie stellen sich eine Zukunft ohne Tierhaltung vor. Die meisten Produkte der Ernährungsindustrie kommen für sie ohnehin nicht mehr in Frage.
Gewiss, niemand behauptet, dass dort draußen im Wald Mehrheiten entstehen, darum geht es auch garnicht, zumindest noch nicht. Es geht um Zukünfte, die anders sein werden, und wer will, kann hier erkennen, wohin sie sich entwickeln. Und bekommt eine Portion Wirklichkeitssinn – ganz im Gegensatz, z. B., zu den von Milliardenkonzernen verbreiteten Schnapsideen über wasserstoffbetriebene SUVs. Die Menschen werden ihren Alltag anders leben. Weil sie müssen, aber auch, weil sie anders leben wollen.
Nehmen die Verantwortlichen in den Ministerien und Aufsichtsräten das überhaupt wahr? Reicht ihre Vorstellungskraft für mehr als für irgendwie zurechtgeschraubte, hingebogene Fortsetzungen der Vergangenheit? Lässt sie so viel Fremdheit, so viel Verzweiflung kalt?
Im Interesse „der Wirtschaft“ ist solche Unempfindlichkeit nicht. Der schwedische Energieversorger Vattenfall hat das gerade teuer gelernt; sein vor 5 Jahren in Hamburg durch den damaligen Ersten Bürgermeister Olaf Scholz offiziell in Betrieb genommenes Kohlekraftwerk wird im nächsten Jahr stillgelegt. Die Verankerung in Verwaltung und Mehrheitspolitik, auf die er sich so lange verlassen konnte, reichte am Ende nicht – weil die Auflagen der Grünen in der Umweltbehörde den Betrieb teuer machten, Klagen der Umweltverbände und ein Volksentscheid die Integration ins Fernwärmenetz verhinderten, die Solarenergie die tägliche „Mittagsspitze“ bei den Preisen kappte, mit der solche Kraftwerke bis vor kurzem noch kalkulieren konnten. Und weil der europäische Emissionshandel anfing zu funktionieren, so dass jede einzelne von den jährlich 8,6 Millionen Tonnen emittiertem CO2 statt um die drei jetzt über zwanzig Euro kostet. Viele Faktoren, die aus einem gegen Klima und Bevölkerung errichteten Neubau eine Industrieruine machten.
Muss man auf Bäume klettern, damit die neue Wirklichkeit wahrgenommen werden kann? Muss es so gefährlich und schmerzhaft zugehen?
Es ist kalt geworden im Wald, es hat geschneit. Dass die Welt den wärmsten November und voraussichtlich das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen erlebt, spürt man hier nicht.