vondie verantwortlichen 27.09.2023

Die Verantwortlichen

Roland Schaeffer fragt sich, warum vieles schief läuft und manches gut. Und wer dafür verantwortlich ist.

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Der bayrische Ministerpräsident muss sich derzeit täglich durch Berge von Wurst und Fleischwaren hindurchessen. Ob dieser Abwehrkampf gegen erfundene Verbots-Gefahren seine Lebensfreude erhöht, wie er behauptet, darf zwar bezweifelt werden. Aber politisch scheint die Methode zu funktionieren. Auf den Fersen sind ihm in den Umfragen nicht die Grünen sondern die Konkurrenz von rechts, vor allem der unangenehme Vize Aiwanger, der ein ähnliches kulinarisches Programm absolviert.

Es stellt sich die Frage, warum diese Art Blödsinn: Wahlkampfs mittels öffentlichen Fleischessens – so wirksam ist. Ärztinnen empfehlen längst mediterrane Kost, 40 % der Bevölkerung bezeichnen sich als „Flexitarier“. Im deutschen Bürgertum geht der Fleischkonsum seit Jahren zurück, zumal bei Frauen und in der jungen Generation. Auch auf dem Oktoberfest ist in diesem Jahr vegane Currywurst der neue Renner und in jeder guten bayrischen Metzgerei ist das Angebot vegetarisch durchwachsen.

Das Überraschende ist:  Wer ökologische Ziele und Gruppierungen zu politischen Feinden erklärt, kann sogar bei Leute, Wirkung erzielen, denen das Tierwohl eigentlich wichtig ist, bei Vegetarier:innen und Besitzer:innen von Wärmepumpen oder Elektroautos, die nun diesmal doch nicht die Grünen wählen. Dabei ist zwar nicht auszuschließen, dass auch Lobbygruppen und finanzielle Interessen hinter dem Kampf von Bild-Zeitung und Söder gegen Vegetarismus und Heizungsumbau stehen, der Erfolg solcher Kampagnen ist dadurch aber nicht zu erklären.

Offenbar gelingt es der politischen Rechten, die ökologische Modernisierung des gesellschaftlichen Alltags mittels gezielter Symbolpolitik als ein autoritäres, von „linken Eliten“ gesteuertes Vorhaben zu denunzieren. „Sozialismus“ sei das, was Wirtschaftsminister Robert Habeck für die Heizungen vorhabe, heißt es dann in den Wahlkampfreden. Würde man Worte ernst nehmen, müsste man darauf bestehen, dass das Gegenteil zutrifft: Wärmepumpen funktionieren dezentral, häufig wird der nötige Strom auf dem eigenen Dach produziert, im Zweifelsfall greifen sie auf das marktgesteuerte europäische Stromnetz zurück, in dem dezentrale erneuerbare Produktion immer wichtiger wird – im krassen Gegensatz zu den Staatsmonopolen hinter den Lieferanten fossiler Brennstoffe.

Es handelt sich also um einen Schritt zu mehr privater Autonomie und zu mehr Marktwirtschaft. So wie der Abschied von der Fleisch-Massenproduktion weg von globalen Erzeugungsketten und Oligopolen in Richtung qualitativ hochwertiger, regionaler Produktion und Vermarktung weist – dorthin also, wo die bürgerliche Mittelschicht sowohl produzierend als auch konsumierend tätig ist.

Und trotzdem wirkt ökologische Politik derzeit hilflos und defensiv – warum?

Die Suche nach Gründen führt zunächst zu der Art, wie ökologisch aufgeklärte Politik kommuniziert wird. Es gibt nämlich tatsächlich strukturelle Ähnlichkeiten ökologischer Argumentationen mit dem, was als staatssozialistische Propaganda und Praxis jahrzehntelang in Europa präsent war. Obwohl der Versuch, einen Ökokollaps zu verhindern, ziemlich genau auf das Gegenteil dessen hinaus läuft, was die kommunistischen Utopien versprachen, funktionieren beide im Alltag ähnlich: Wer ökologisch sinnvoll handelt, dem geht es nicht einfach darum, eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Er beruft sich zugleich auf ein höheres Ziel, auf die Menschheit, das Weltklima. Was alle anderen als moralische Aufforderung verstehen können, als subtil autoritären Imperativ – und manche als übergriffig empfinden.

Gerade im Osten erinnert dieser diskursive Menschheitsüberschuss in den klimapolitischen Argumenten an sozialistische Traditionen – auch damals ging es nicht einfach darum, Kartoffeln zu ernten oder Brot zu backen, damit man etwas zu essen oder zum Verkaufen hatte, sondern immer auch um ein Menschheitsprojekt. Auch die Behauptung, die kommunistische Zukunft sei „wissenschaftlich“ begründet, ähnelt ökologischen Argumentationen. Die Parteieliten konnten daraus ihre Existenzberechtigung ableiten und damit eigene, auch sehr materielle Interessen verbinden – eine heute wieder aktuelle Unterstellung.

Aber auch dort, wo bäuerliches Leben noch heute ein Gefühl der Gemeinsamkeit erzeugen kann, wie das in Teilen von Bayern der Fall ist, gelingt es der Rechten, die alte Gegnerschaft der Bäuerinnen und Bauern gegen Staatseingriffe und sozialistische Konzepte neu zu mobilisieren. Wer vor Ort darüber diskutiert, bekommt dann zu hören, dass es die Grünen seien, die für all die Regeln und Verbote der letzten Jahrzehnte die Verantwortung trügen, die den Bauern das Leben schwer machten. Als hätten die Grünen dort je regiert. Selbst zu regieren und zugleich die Verantwortung für das eigene Handeln projektiv auf die Opposition zu verschieben, ist auf dem bayrischen Land eine eigene politische Kunstform.

Eine zweite Ursache für die aktuellen diskursiven Zuspitzungen liegt nahe. Es brauche, so ist Umweltdebatten häufig zu hören, erst eine richtige Katastrophe, dann würden die Menschen das Klimaproblem verstehen und ihr Leben ändern. Die „Letzte Generation“ variiert diesen Gedanken in das strategische Vorhaben, das „fossile“ Alltagsleben schon jetzt möglichst wirksam zu stören. Leider gleicht aber das zugrundeliegende Menschenbild einer banalen Karikatur alter pädagogischer Irrtümer.

„Hört auf die Wissenschaft“, hieß es auf den Plakaten von Fridays for Future. Gemeint waren dabei naturwissenschaftlich begründete Daten und Prognosen – die Sozialwissenschaften oder die Psychologie mit ihren unangenehm komplizierten Antworten auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse stand schon damals nicht im Focus. Die jetzt entstandenen Nachfolgeorganisationen verzichten gleich ganz auf Gesellschaftsanalyse und verwenden allgemeine naturwissenschaftliche Erkenntnisse zur Klimakrise, um daraus unmittelbar Forderungen an die Gesellschaft und ihre einzelnen Mitglieder abzuleiten. Und weil das moderne Alltagsleben historisch auf einer fossilen Basis entwickelt wurde und noch immer durch Fossilität geprägt ist, kann die „Unterbrechung“ an jedem beliebigen Punkt ansetzen. Wenn sozialwissenschaftlich erhobene Umfragedaten dann zeigen, dass mehr Zuspitzung und mehr Verunsicherung zwar mehr Aufmerksamkeit, nicht aber mehr klimapolitische Wirkung erzeugen, wird das zum Anlass genommen, nach noch mehr Zuspitzung zu rufen.

Dabei deutet alles darauf hin, dass die existentialistisch-moralische Geste Einzelner, die sich der Klimakrise mit persönlichem Risiko auf der Straße entgegenstellen, von den Adressaten dieses kommunikativen Handelns nicht als Aufklärung sondern vor allem als extreme Form der Schuldzuweisung verstanden wird. Die Botschaft, die beim Empfänger ankommt, lautet: Schuld sind all jene, die im Angesicht der Menschheitskatastrophe einfach nichts tun. Oder die einfach zu dumm sind, um zu verstehen, um was es geht. Oder so rücksichtslos, dass sie unbeirrt mit ihrem Auto nach Hause fahren möchten. Also Individuen, nicht Institutionen. Es gelingt so zwar, Aufmerksamkeit zu schaffen, nicht aber, die Mehrheiten für Veränderungen zu stärken.

Wer Aufklärung durch die Klebstofftube betreiben will muss davon ausgehen, dass deren Adressat:innen uninformiert oder gefühllos seien. Tatsächlich aber sprechen die Umfragen dafür, dass die meisten Menschen in Deutschland die Prognosen kennen, dass sie Angst haben und gerade deshalb nichts mehr von ihnen hören wollen – weder von dem bedrohten ökologischen Rahmen unserer Existenz, noch von einer Zukunft aus Hitzewellen, Fluten und Bränden und globalen Pandemien. Dass sie die Zuweisung der Schuld für die Menschheitskatastrophe an sie persönlich als unerträglich empfinden. Die Antwort auf solche Ängste kann eben auch darin bestehen, die Ohren zu verschließen und den Boten für die Botschaft zu hassen. Die persönliche Konsequenz lautet dann: Ich helfe mir selbst und meinen Nächsten – und genieße das, was an Genuss übrig ist, bevor gar nichts mehr geht. Und wehe, es will mich jemand daran hindern. Oder es kommt, im Extrem, zum moralischen und politischen Auszug aus jener Wirklichkeit, in der Wissenschaft und Fakten überhaupt eine Rolle spielen. In vielen Fällen ist das der Auszug in die fiktive Welt eines extremistischen Nationalegoismus, die alle Klimafragen und sozialen Verantwortlichkeiten hinter sich gelassen hat.

Beide Faktoren, die Strukturanalogie zwischen Klimapolitik und staatssozialistischer Bevormundung und die existenzialistische Strategie der Zuspitzung, machen es den politischen Gegnern wirksamer Klimapolitik gegenwärtig leicht, den Klimaschutz aus der gesellschaftlichen Mitte zu verdrängen – ihn also aus der „bürgerlichen“ Welt der abwägenden Vernunft und des verantwortlichen Handelns zu verbannen. Die Grünen seien zwar eine Partei der Besserverdienenden und der „Eliten“, heißt es dann, aber keine bürgerliche Partei – abermals ein hübsches Paradox. Der Kernbereich jeder bürgerlichen Politik, die Vorsorge für die nächste Generation, wird auf diese Weise zum Randthema, zum Nebenschauplatz erklärt. Während am anderen Ende des politischen Spektrums sich der Eindruck verbreitet, dass „unser System“ mit all seinen Institutionen des demokratischen Rechtsstaats es einfach nicht hinbekommt – dass weder Klimaschutz noch auch nur eine gesellschaftliche Beruhigung gelingen.

Der Zivilgesellschaft könnte einstweilen eine stärkende Selbstaufklärung helfen: Die Mitte ist ja längst grün. Fast jeder Beruf, fast jede Ausbildung sind unterdessen klimapolitisch geprägt, allein kraft geltender Gesetze und EU-Normen. Die ökologische Kompetenz ist – freiwillig oder unfreiwillig – tief in den beruflichen wie privaten Alltag vorgedrungen. Jetzt muss es um gesellschaftliche, politische Strategien gehen, um Strukturentscheidungen durchzusetzen. Konflikte, wenn sie denn notwendig sind, sollten mit mächtigen Gegner:innen in Wirtschaft und Institutionen ausgefochten werden. Auf pädagogisches Fingerzeigen hingegen kann verzichtet werden. Wer politisch etwas erreichen will, braucht das Privatleben aller anderen nicht zur erzieherischen Verfügungsmasse zu erklären. Wer fliegt, Fleisch isst oder dicke Autos fährt, muss das mit sich selbst ausmachen. Auf die Moralisierung des Privaten zu verzichten ist eine Frage der politischen Effizienz.

Was die staatliche Umweltpolitik angeht, wäre mehr ordnungspolitische Sorgfalt hilfreich. Dann wäre nicht nur zu fragen, was eine Maßnahme erreichen soll, sondern auch, wie sie in all den professionell kompetenten Milieus, von den Handwerker:innen über die Wirt:innen bis zu den Bäuerinnen ankommt. Das Leitbild einer sozialen Marktwirtschaft – kürzlich erweitert zur ökologisch-sozialen Marktwirtschaft – könnte dabei als Richtschnur dienen – dann jedenfalls, wenn es nur nicht beschworen, sondern auch mit jenen Millionen von Menschen und ihren Organisationen geteilt wird, die als Selbstständige gestalten und Verantwortung übernehmen möchten. Schließlich ist die Selbstwirksamkeit eines der stärksten Motive des ökologischen Umbaus und des sozialen Zusammenhaltes.

Die Mitte ist grün – nicht im polit-geographischen Sinne als eine Mitte „zwischen rechts und links“ verstanden, sondern als produktives Zentrum der demokratischen politischen Welt. Es muss mehr geschehen, gewiss, es muss schneller gehen, und die unkalkulierbaren Risiken machen Angst. Nur muss ökologische Politik nicht nur Emissionen vermindern, sie muss zugleich auch die demokratischen Institutionen erhalten und den Staat modernisieren. Ja, das dauert, und manche Fortschritte sehen vielleicht sogar wie Rückschritte aus. Die Grünen als Partei können trotzdem nur auf die Mitte setzen. Sie haben keine Alternative.

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