Bernd Ulrich ist eine der führenden Stimmen in der deutschen Klimadebatte, was er vorschlägt, hat Gewicht über den Tag hinaus. Unlängst hat er in der ZEIT einen längeren Essay veröffentlicht, den er gemeinsam mit seinem Sohn Fritz Engel verfasst hat. Das Fazit ihres Textes lautet: Es sieht nicht gut aus. Der Grund dafür liegt im Kollektivbewusstsein der Menschheit: Wir haben uns in der Vorstellung verhakt, es gebe ein Recht auf Luxus und haben deshalb zahllose überflüssige Produkte und Beschäftigungen erfunden. Das Ergebnis war die Klimakrise. Und anstatt unsere Verantwortung wahrzunehmen und Bescheidenheit zu üben fühlen wir uns in unserem Recht auf Selbstbestimmung gekränkt. Dies ist umso misslicher, weil es sich – nach der Zählung von Ulrich und Engel – bereits um die vierte Kränkung handelt, nach der kopernikanischen, der darwinschen, der psychologischen (Freuds Behauptung, das Ich sei nicht „Herr im eigenen Haus“, unsere Entscheidungen würden vielmehr durch das „ES“ mitgesteuert). Die ihres Stolzes beraubten Menschen weigern sich also, das Problem wahrzunehmen, geschweige denn es zu bekämpfen. Um Handeln zu können, müssten sie demnach zunächst die Kränkung überwinden: „Die Voraussetzungen sind da, das Problem ist weder wissenschaftlicher noch technischer Natur, sondern rein mental.“ Wie das gelingen und es zu einem derartigen globalen Bewusstseinswandel kommen könnte, bleibt allerdings im Dunkeln.
Die Zusammenfassung ist verkürzt, zugegeben. Aber nur leicht. Denn das sind die Akteurinnen und Motive, die Ulrich und Engel auftreten lassen: Eine gekränkte und deshalb verblendete Menschheit. Das Klima, das nicht mit sich verhandeln lässt. Wir alle, die Weltbevölkerung, die wir einer von der westlichen Aufklärung ausgehenden Entwicklung zu einer weitgehend einheitlichen Denklogik, der „Steigerungslogik“ gefolgt sind und weiter folgen. Wir zugleich auch als Summe von acht Milliarden Individuen, die jedes einzeln über sein Klima-Handeln entscheiden müssen, und dabei, im Kampf mit dem inneren Schweinehund, in der Regel den falschen Weg wählen. Die Demokratie, hier konkret die deutsche, die im bürokratischen Streckbett erstarrt ist. Die Diktaturen, die es möglicherweise besser machen könnten, wenn sie denn ökologische Ziele verfolgen würden (wofür bisher nichts gesprochen hat und auch in Zukunft wenig spricht). Und eine verstreichende Zeit, die so knapp geworden ist, dass sie zum Handeln eigentlich nicht mehr taugt.
Es gibt in dieser Erzählung keine Realgeschichte. Keine Institutionen, keine Technologien (wenn man denen nichts Gutes zutraut, könnte man ja wenigsten ihre exponentiell gewachsenen Zerstörungskräfte beschreiben), keine wirtschaftlichen Interessen, keine sozialen Bewegungen und Kämpfe. Der Text entwickelt stattdessen eine sehr weit reichende These, und das macht seinen Reiz aus – aber auch sein Risiko. Dennoch soll hier auf den Versuch verzichtet werden, einzelnen Punkte oder der gesamten Argumentation zu widersprechen. Stattdessen wird im Folgenden eine Art Gegendarstellung vorgeschlagen. Eine Darstellung, die menschliche Wünsche und Bedürfnisse samt den Institutionen, in denen sie sich materialisiert haben, nicht einfach als verderblichen Luxuswahn verurteilt, sondern ernst nimmt. Die nicht nur Überfluss sieht, sondern auch Hunger und Schmerzen. Die Sympathie und Verständnis entwickelt für diese merkwürdigen menschlichen Wesen, die dazu neigen, Nebenfolgen ihres Handelns zu ignorieren und die Äste abzusägen, auf denen sie sitzen. Die die vor kurzem erst entstandenen technischen Auswege benennt, die so unwahrscheinlich schienen und deren Erfolg immer noch zweifelhaft ist, aber doch nicht ganz so praktisch aussichtslos, wie ein schneller globaler Bewusstseinswandel.
Modernes Leben ohne Klimazerstörung: Vor kurzem war das tatsächlich nicht möglich. Es ging und geht dabei (wie auch jetzt bei der drohenden Gasknappheit) keineswegs nur um warme Wohnungen in den kälteren Regionen. Sondern auch um daraus chemisch hergestellte Dünge- und Pflanzenschutzmittel, Kleidung, Maschinenteile, Baustoffe – all das, was in den letzten Jahrzehnten immer mehr wurde und dabei die Bequemlichkeit erhöhte, die Lebenserwartung verlängerte, mehr Menschen das Überleben ermöglichte. Der moderne, bis vor kurzem noch „westliche“ Lebensstil war zwangsläufig ein fossiler Lebensstil. Ein Ausstieg aus diesem Lebensstil hätte deshalb drastische Folgen gehabt. Ums kurz und schmerzhaft zu sagen: „Wir“ in den Industrieländern hätten akzeptieren müssen, dass unser Leben sich verkürzt. Die Menschheit hätte schrumpfen müssen, gewaltsam, wie ihr das in früheren Jahrhunderten mehrfach geschehen war, oder auch einfach aus Mangel an Überlebensmitteln.
Die UmweltwissenschaftlerInnen der 80er und 90er Jahre wussten das, auch wenn die meisten soweit nicht denken wollten – mit erinnerungswürdigen Ausnahmen wie dem Schriftsteller Carl Amery. Es gab deshalb nur zwei mögliche Optionen zum Schutz des Klimas: Den Verzicht auf Verfahren, die Energie benötigten und die Steigerung der Energieeffizienz. Das hieß: Weniger Umwandlungsverluste bei der fossilen Stromerzeugung, weniger Heizenergieverbrauch durch besser gedämmte Wohnungen, Autos, die möglichst nur 3 Liter Benzin auf 100 km brauchten, weil sie kleiner und leichter sein sollten. Und weniger Mobilität, weniger Wohnfläche pro Kopf, weniger Industrieproduktion. Dass Atomkraft aus vielen Gründen keine Antwort sein würde, war bekannt. Es war und blieb ein Minderheitenprogramm, dessen langfristige Wirksamkeit wegen des Nachholbedarfs in den Armutsregionen der Welt und auch wegen des Bevölkerungswachstums mehr als zweifelhaft schien. Und nein, dafür war nicht nur die „Steigerungslogik“ verantwortlich, die immer neue Konsumniveaus anstrebte. Die gab es auch, wie man weiß wurde aus dem 3-Liter-Auto in den 90er Jahren dann der 3-Tonnen und 300-PS-Stadt-LKW mit nach oben offenem Verbrauch. Der Zerstörungsirrsinn, von dem Ulrich und Engel sprechen, war und ist eine Realität. Aber nicht die einzige: Es ging auch um die elementare Bedürfnisbefriedigung von Milliarden Menschen, die auf ihrem Weg in die globale Mittelklasse in die fossile Falle traten. Sie verwandten die Energiebedarfe der modernen Alltagswelt nicht nur für Flugzeuge oder Markenklamotten, sondern auch für Krankenhäuser und Abwasserreinigung.
Wer in den 80er und 90er Jahren umweltpolitische Verantwortung trug, für den oder die war Emissionsminderung das Ziel, nicht die Beendigung der Emissionen oder gar Klimaneutralität. Auch, weil faktisch mehr nicht möglich war, ohne sehr vielen Menschen ihren mühsam erkämpften Lebensstandard wieder zu nehmen. Dass „wir“ Schuld haben, ist auch deshalb zweifellos richtig. Nur stimmt eben auch: Die Alternativen gab es noch nicht, sie waren erst im Entstehen. Inzwischen gibt es sie.
Die postfossile Chance für unsere Welt ist in den letzten 20 Jahren entstanden. Noch zu Beginn des neuen Jahrtausends war die Meinung der übergroßen Mehrheit der Energieplaner*innen eindeutig – und das galt auch für die meisten derer, die aus dem Öko-Lager stammten: Der Umbau der Energieversorgung ist in der absehbaren Zeit nur als Effizienzrevolution denkbar.
Die Gründe für diese Überzeugung lagen in der Realität der vorhandenen Strom- und Energieerzeugung: Um die Jahrtausendwende trug Windenergie mit 1,7 Prozent zur Stromerzeugung bei. Der solare Anteil war praktisch unsichtbar, er lag weit unter einem Zehntel Prozent, bei enormen Kosten. Wasserkraft und Bioenergie lieferten mehr, aber deren Anteile waren natürlich begrenzt und konnten kaum noch gesteigert werden. Heizwärme und Mobilität waren ausschließlich fossil. Dass die rotgrüne Koalition durch das EEG eine auskömmliche Finanzierung für Photovoltaik und Windenergie ermöglichte, war ein typischer Koalitionskompromiss: Vorangetrieben von Abgeordneten wie dem energiepolitischen Visionär Hermann Scheer, von Hans-Josef Fell, Michaele Hustedt, Reinhard Loske u. a., schlüpfte das Gesetz gewissermaßen unter der Wahrnehmungsschwelle der wirklich Mächtigen hindurch. Den Energiekonzernen erschien es derart irrelevant, dass sie sich nicht einmal die Mühe machten, dagegen zu lobbyieren. 4 Prozent Rendite konnte eine geförderte Photovoltaik-Anlage bringen. RWE verkündete damals, man investiere nur bei einer Renditeerwartung von mindestens 15 Prozent. Der ökonomische Reiz war also zunächst bescheiden. Dass sich dennoch so viele Menschen für die neuen Energien engagierten, auch mit ihrem eigenen Geldbeutel, hatte denn auch mit einem wirksamen Bewusstseinswandel zu tun: Sie wollten weg vom Atom und von der Arroganz der Konzerne. Es war die Verbindung dieses Bewusstseinswandels mit praktischen, ökonomisch und technisch unterlegten Handlungsoptionen, die schließlich für eine exponentielle Entwicklung sorgte. Es waren wirtschaftliche Möglichkeiten entstanden, es gab, für ein paar Jahre, eine Politik, die sie unterstützte, und es gab technologisches Umfeld, das durch sich durch die neuen Chancen explosionsartig entwickelte. Die Effizienz von Photovoltaik-Modulen und Windkraftanlagen hat sich seither vervielfacht, neue Technologien für Speicherung, Stromübertragung und digitales Netzmanagement machen aus Hermann Scheers Utopie einer regenerativen Vollversorgung eine planbare Wirklichkeit. Der Neubau der Energiewelt – Gebäudeheizung, Mobilität, Industrieproduktion ist in vollem Gange.
Deshalb besteht heute die Chance auf eine postfossile Moderne. Eine Lebensweise, die ihre immensen Energiebedürfnisse ohne die Freisetzung von fossil gespeichertem CO2 und Methan befriedigen kann. Wenn sie sich dafür entscheidet. Und es sieht, zumindest in Europa, so aus, als ob jetzt viele Länder diese Entscheidung treffen würden.
Wenn man der Argumentation von Ulrich und Engel folgt, dann reicht das alles nicht aus. Der Erfolg der Energierevolution kommt in ihrem Text nicht vor. Sie bleiben allgemein, und im Allgemeinen geht alles „zu langsam“, ist „die Demokratie“ zu bürokratisch und zu wenig ambitioniert. Schließlich erzeugen wir Unmengen von Plastikmüll, vernutzen knappe und knappste Rohstoffe für blödsinnige Formen der Mobilität, zerstören sinnlos die biologischen Lebensgrundlagen auf dem Globus, quälen Tiere usw. usf.
Man möchte dem nicht widersprechen. Oder eben doch. Hilft es wirklich, ein lösbar gewordenes Problem mit einem Dutzend ungelöster zu erschlagen? Trägt das zur Problemlösung bei? Und wenn die Chance entsteht, ein scheinbar unvermeidbares Verhängnis, eine Menschheitskatastrophe, in die die fossile Sackgasse der Moderne geführt hat, mit viel Glück in allerletzter Minute doch noch zu umgehen – warum wird dieser praktische Erfolg klima- und energiepolitischen Engagements mit dem Hinweis auf einen gedanklichen Irrweg ignoriert und stattdessen empfohlen, das globale Denken zu korrigieren?
Gewiss, es sieht nicht gut aus um die Klimazukunft, und Pessimismus ist eine legitime Haltung. Trotzdem könnte man aber auch daran gehen, Gegenmittel zu den Problemen zu entwickeln, diese institutionell zu verankern, politisch, wirtschaftlich, administrativ durchzusetzen. So etwas klingt dann eher nüchtern, begrenzt, wenig heroisch. Aber es kann Erfolg haben. Vielleicht beginnt ja, – auch dank Fridays for Future – eine neue politische Generation jetzt die Hebel für die Veränderung in die Hand zu nehmen.
Und schließlich spricht auch viel dafür, dass den fossilen Zerstörungsmächten ihre Erpressungen auf die eigenen Füße fallen. Noch scheint ihre Macht groß, und kurzfristig können Verknappung und Preissprünge bei den Fossilen noch eine Gefahr für die Demokratie bedeuten. Die Lektion, die die Herren der Fossilen der Welt gerade erteilen, könnte allerdings auch dafür sorgen, dass das fossile Zeitalter noch sehr viel schneller zu Ende geht, als es vor kurzem den Anschein hatte.
Aber ist es nicht trotzdem zu spät?
Zwanzig Jahre hat es gedauert für einen welthistorischen Einschnitt: Die praktische Entstehung einer technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Alternative zur fossilen Energiebasis der Moderne. Jetzt sind wir mitten im Umbruch. Der größere Teil der Energieinvestitionen fließt heute weltweit in Erneuerbare, sie sind kostengünstiger als Kohle, Gas und Atom, man kann sie auf jedem Dach erzeugen und damit Häuser wärmen oder Züge und e-Bikes fahren lassen. Ja, es geht zu langsam, überall, in den Ministerien, in den Unternehmen, in den Handwerksbetrieben. So sind wir Menschen. Es spricht also alles dafür, das Denken zu verändern. Und die Ärmel aufzukrempeln.