In der Bevölkerung, so klang die die Osterbotschaft des Innenministers Horst Seehofer, gebe es eine „große Sehnsucht nach einheitlichen Regeln“. Im SPIEGEL klingt das Echo: „Mehr Macht an der Spitze“. Inzwischen stimmen die Bundeskanzlerin und der vermutliche Kanzlerkandidat der Union in den Chor ein.
Wäre die Corona-Politik wirklich besser und erfolgreicher, wenn sie von ganz oben käme? Die meisten Menschen in Deutschland wissen: Sie kommt auch jetzt schon von dort. Zwar werden die Einschränkungen auf Landesebene und in der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen. Die Entscheidungsvoraussetzungen aber liefern die Bundesinstitutionen. Das Robert-Koch-Institut erstellt die Daten, gibt die dafür notwendigen Untersuchungen in Auftrag und entwickelt Vorschläge für wirksame Maßnahmen. Das Gesundheitsministerien hat dafür zu sorgen, dass die Infrastruktur stimmt – dass Masken, Tests, Impfstoffe vorhanden sind. Und beide Institutionen sind für transparente Information und Kommunikation zuständig.
Nach einem Jahr kann man Bilanz ziehen und feststellen: Sie sind diesen Aufgaben nicht gewachsen. Schon nachdem sich die Bundeskanzlerin für einen unausgegorenen Vorschlag in mitternächtlicher Runde entschuldigt hat, konnte man fragen: Welche verantwortlichen Institutionen hätten die dringend erforderlichen, fachlich sorgfältig ausgearbeiteten, in ihrer Wirkung geprüften und für die Bevölkerung nachvollziehbaren Vorschläge vorbereiten und vorlegen müssen? Oder sollen wir uns wirklich vorzustellen versuchen, wie unsere Regierenden um Mitternacht, in der Geisterstunde zu dichten und zu denken beginnen? Für welche Verwaltungen und welchen Minister also hat die Kanzlerin als Chefin – zu Recht, weil sich das so gehört – die Verantwortung übernommen? Wenn künftig etwas besser werden soll, müsste diese Frage beantwortet werden. Gestellt wurde sie allerdings nicht, weder bei Anne Will noch bei Markus Lanz. Für die Spitzen der Medienöffentlichkeit scheint es normal zu sein, dass derartige Strategien spontan in den eigenen Köpfen der Regierungsspitzen entstehen. Wenn das dann aber nicht klappt: Würde es helfen, ihnen mehr Macht zu geben?
Die entscheidenden Messinstrumente, nach denen die Coronaregeln ausgestaltet werden sollen, sind in der aktuellen Debatte die 7-Tage-Inzidenz und die daraus entstehende Auslastung der Intensivstationen. Aktuell allerdings liegen diese Zahlen „wegen der Osterfeiertage“ nicht in einer zuverlässigen Form vor. Stattdessen lebt das Land, allem Alarmgeschrei zum Trotz, in einer Pause von zwei Wochen. Auch am Wochenende nach Ostern sind sind die Zahlen noch vorläufig. Die nächste „zuverlässige“ 7-Tage-Inzidenz wird uns, der Bevölkerung, für den nächsten Dienstag, also Mitte April, versprochen.
Pandemiebekämpfung beruht auf in modernen demokratischen Gesellschaften auf Kooperation: Kooperation zwischen Staat und Bevölkerung, zwischen wissenschaftlichen und politischen Institutionen, und gewiss auch zwischen den Regierenden auf verschiedenen staatlichen Ebenen. Dass wir, die Bevölkerung, aktiv mitdenken und mitmachen, dass wir informiert und motiviert werden und dass wir die Einschränkungen für sinnvoll halten, wäre deshalb sehr viel wichtiger als deren bundesweite Einheitlichkeit oder die Harmonie zwischen den Damen und Herren an der Spitze.
So, wie die Bundesregierung arbeitet, kann diese Kooperation allerdings nicht funktionieren. Zwar fliegt, um ein beliebtes Bild zu verwenden, unser gemeinsames Flugzeug über Gebirge und durch Turbulenzen – der Höhenmesser aber ist seit einem guten Jahr kaputt und auch die sonstigen Instrumente sind nicht geeicht. Flugkapitänin und Crew hätten versuchen können, sie zu reparieren – also: Die Zahlen direkt bei den Testlabors abzufragen, digitale Übermittlung sicherzustellen, notfalls auch öffentlich mitzuteilen, welche Gesundheitsämter nicht liefern (das wäre dann bestimmt geklärt worden), oder wenigstens vernünftige Hochrechnungen zu veröffentlichen. Sie haben das nicht getan. Und während in einem der entwickeltsten Industrieländer pausenlos über wissenschaftliche Notwendigkeiten gesprochen wird, kann bis heute niemand genau sagen, welche pandemiepolitischen Maßnahmen wie wirken. Die Gesundheitsämter seien eben nicht in der Lage, die Ansteckungswege zu verfolgen, heißt es dann, und die App helfe auch nicht, wegen Datenschutz. Das ist insoweit richtig, als Gesundheitsämter für eine solche Aufgabe nicht ausgestattet sind. Dass es hingegen in Deutschland keine Institution geben soll – keine Uniklinik, keine Forschungseinrichtung, kein Statistikamt, keine soziologische Fakultät, kein Umfrageunternehmen – die anhand von repräsentativen Stichproben und (freiwilliger) Mitarbeit der Bevölkerung ein zuverlässiges Bild der Ansteckungswege entwickeln und die Wirkung von Einschränkungen überprüfen könnte, ist hanebüchen. Wir kennen die Wirkungen der Maßnahmen deshalb nicht, weil die Zuständigen niemanden beauftragt haben, sie empirisch zu überprüfen.
Weil man also noch immer nichts Genaues weiss, werden die Regeln weiterhin unter den Bezeichnungen „hart“ oder „weich“ gekocht. Beschlossen werden sie nicht auf einer transparenten, nachvollhziehbaren und allgemein geteilten Datengrundlage, sondern auf Basis politischer Vermutungen. „Nach Gefühl“, wie in Loriots berühmtem Sketch.
Womit wir das Feld der Fachpolitik verlassen und uns zurück begeben in das Feld der „politischen“ Politik. Also dorthin, wo es um Macht geht. Schließlich kann die bayerische Regionalpartei CSU, wenn sie gegen alle ihre Traditionen für mehr Zentralismus eintritt, niemandem weismachen, es gehe ihr um Pandemiepolitik (da hätte sie im eigenen Land genug zu tun). Vielmehr soll signalisiert werden: Wir wollen mehr Macht.
Dass Menschen Macht schätzen und ihr eine eigene Wirksamkeit zuschreiben, ist gewiss nicht neu. Selbst grausam schlechte Regierungen werden deshalb oft unklaren Verhältnissen vorgezogen. In diesem Fall allerdings hängt der Erfolg der Pandemiebekämpfung vor allem von der Kooperation zwischen Staat und Gesellschaft, also vom Verhalten der potentiellen Virenträgerinnen und Virenträger ab und nicht von der „Bundeseinheitlichkeit“ oder „Härte“ der Vorgaben. Überzeugung und kollektive Zustimmung sind unendlich viel wichtiger sind als polizeiliche Kontrollen. Trotzdem soll jetzt die Bundesregierung mehr bestimmen – und ganz nebenbei auch einer der wenigen Versuche, etwa in Tübingen, konkret zu ermitteln, wie Regeln konkret wirken und ob es Alternativen gibt, im Keim erstickt werden könne. Das RKI-Modell der in Kauf genommenen gesellschaftlichen Blindheit bliebe dann künftig unwidersprochen. Und die Abwägung zwischen Pandemiebekämpfung und z. B. dem Wohl von Kindern, würde regional stark eingeschränkt. Zwar kann niemand behaupten, dass zentralistische Staaten wie Frankreich in der Coronapolitik erfolgreicher wären. Aber darum geht es offenbar längst nicht mehr.
Es geht um Wahlkampf mit Corona. Und anstatt über die Leistungsbilanz der Regierung zu reden, soll er in einen Showdown der „Harten“ gegen die „Weichen“münden. Dabei, so hofft man wohl, könnten dann auch die Grünen mit ihrer Demokratie der Vielfalt und Transparenz in Schwierigkeiten geraten.
Dass die Union auf diesem Weg Erfolg hat und Vertrauen zurückgewinnt, darf man bezweifeln. Solche Winkelzüge werden heutzutage bemerkt. Und zu viele Leute leisten sich einen eigenen Kopf.