Kriege zu vermeiden ist in einer atombewaffneten und klimagefährdeten Welt das vernünftigste aller Ziele. So verstanden bräuchten die Demokratien also mehr und nicht weniger Pazifismus. Nur hat das Vermeiden des Kriegs nicht funktioniert, und es muss nach anderen Regeln gehandelt werden, wenn man die Opfer nicht allein lassen und den Angreifer nicht durchmarschieren lassen will. Und obwohl die Bewältigung der aktuellen Krise alle Kräfte und alle Aufmerksamkeit beansprucht, müssen wir die Frage beantworten, was genau uns in diese Situation gebracht hat. Welche Anreize, die kriegerische Abenteuer nahelegen, wirken weiter? Die Voraussetzungen für den zivilen Kontrollverlust, also den Übergang zum großen Krieg, zur Zerstörung der europäischen Sicherheitsordnung wurden schließlich in Friedenszeiten geschaffen. Welche Veränderungen sind nötig, damit sich diese Entwicklung nicht immer weiter fortsetzt?
Wer so fragt, kommt auf ungemütliche Gedanken. Gewiss, die Energieabhängigkeit war ein schlimmer Fehler und muss dringend beendet werden. Aber das kann nur ein Anfang sein. Die wirtschaftlichen, rechtlichen, geistigen Grundlagen von Putins brutaler Militärmacht sind zwar primär in Russland zu finden. Aber sie sind auch Teil eines globalen Problems.
Auch wenn wir von „Putins Krieg“ reden, so war es doch die russische Gesellschaft, die ihm zuerst durch Wahlen die Macht dafür überlassen hat. Und noch mehr: Für das irre Schauspiel der letzten Monate, in dem ein einziger Mann im Jahr 2022 die Weltöffentlichkeit über Monate in Atem halten und Dutzende Staatschefs in stundenlangen Gesprächen zu Bittstellern, Telefonseelsorgern, Geschichtsautodidakten degradieren konnte, hat ihm die Weltgesellschaft wie in einer Art mentaler Vollnarkose im Lauf von zwei Jahrzehnten eine stabile Bühne gebaut. Jetzt endlich scheint sie aufgewacht und ist damit beschäftigt ist, diese Rätselfigur zu bestaunen und zu fürchten: Was will er, was denkt er, wo tut es ihm weh, ist er krank, wie kann man ihn beruhigen?
Der Exotismus, der die in den letzten Jahren entstandene Moskauer Diktatur auf „russische“ Besonderheiten zurückführen will, ist nicht unbegründet, und führt doch in die Irre. Putin ist zwar Russe, der Kreml hat bunte Dächer, und seine völkisch-faschistische Geschichtspolitik beruft sich auf Russland. Aber es sind zugleich die Probleme der globalen Moderne und ihre Antagonismen, die in der Ukraine ausgekämpft werden. Putins ideologisches Arsenal, sein kommunikationstechnisches Instrumentarium, seine Basis in einer extraktiven Kleptokraten-Ökonomie – all das mag veraltet, „zurückgeblieben“ sein, aber es ist zugleich ein Abklatsch des „Westens“. Putin ist auch das Produkt dieses spätmodernen Kapitalismus, nicht nur das des KGB oder der orthodoxen Kirche – so wenig wie der Syrer Baschar al Assad mit seinem Londoner Augenmedizin-Studium, um nur dieses Beispiel zu nennen, sich allein aus den Traditionen des schiitischen Islams verstehen lässt. Globale Ressourcen – Finanzen, Technologien, Ideologien und Wertorientierungen werden seit dem Überfall auf das Nachbarland auf beiden Seiten eingesetzt.
Noch mehr der Verwandtschaft: Die Fans des Diktators sitzen im deutschen Bundestag, im amerikanischen Kongress oder im Abklingbecken in Florida, dem Rückzugsort jenes Möchtegern-Autokraten Trump, der selbst vor einem Jahr in Washington mit einem dilettantischen Putschversuch gescheitert ist. In Frankreich hat eine von ihm mitfinanzierte Präsidentschafts-Kandidatin 42 Prozent der Stimmen erreicht. Im EU-Land Ungarn bedient ein Putin-treuer Machthaber seine Entourage mit europäischen Geldern und hat die Pressefreiheit praktisch abgeschafft. China, Brasilien oder Indien weigern sich, den Angriffskrieg zu verurteilen.
Was also sind die Quellen, was macht die Faszination dieser russischen Variante einer autoritären Oligarchenwirtschaft aus, die sich in der Welt ausgebreitet hat und es jetzt, im Jahre 2022, einem Einzelnen Individuum, einem ihrer 8 Milliarden BürgerInnen ermöglicht, seine verquasten ideologischen Träume blutig zu verwirklichen?
Wer Konflikte friedlich lösen will, muss den eigenen Beitrag wahrnehmen – also in den Spiegel schauen. Pazifismus hieße demnach gegenwärtig, den Alltag im Frieden so zu gestalten, dass kriegerische Konflikte vermieden werden. Er wäre kein moralischer Appell, wenn es zu spät ist, und schon gar nicht würde er dazu auffordern, die Opfer eines Angriffskrieges ohne die Möglichkeiten zur Gegenwehr zu lassen. Stattdessen ginge es um eine sorgfältig ausgearbeitete und geplante Strategie. Dieser Pazifismus müsste sich mit mächtigen gesellschaftlichen Interessen anlegen, nicht nur mit der Rüstungsindustrie, und er wäre entschieden konfliktträchtig – ganz im Gegensatz zum lobbybesoffenen „allen wohl und niemand weh“ der letzten Bundesregierung, die Deutschland zum weichen Bauch Europas gemacht hat. Und die Bundeswehr wäre ihm nicht das wichtigste.
Wer die aktuelle russische Diktatur mit ihrem autoritären Staatsapparat, ihrem Medienmonopol und ihrer Oligarchenkleptokratie genauer betrachtet, sieht tatsächlich historische Strukturen. Nicht das mythische Russland, jene ganz andere „russische“ Kultur, von der Putin faselt und die ihm gewiss jeder gern lassen würde, sondern sehr materielle und gesellschaftliche Realitäten. Ein Russland, das seit dem zaristischen Imperium nicht ohne die Verbindung seiner adligen Eliten mit dem europäischen Hochadel, ohne die Badeorte und Spielsalons Europas, ohne Schweizer Hotels und militärische Zusammenarbeit denkbar war. Ein Russland, das seit dem 18. Jahrhundert gemeinsam mit Preußen und Deutschland die Ansätze für Demokratie und Selbstbestimmung in Mitteleuropa immer wieder zerteilt und zerstört hat, bevor es selbst Opfer des Nazi-Vernichtungskrieges wurde, und anschließend die Menschen und Regionen Ost- und Mitteleuropas hinter dem Eisernen Vorhang eingesperrt hat. Beim Wiederaufbau eines autoritären Herrschaftsmodells in den Grenzen der russischen Föderation waren Deutschland – und auch Westeuropa – dann so etwas wie Ko-Alkoholiker, die die riesigen finanziellen Gewinne seiner neofeudalen Ressourcenwirtschaft samt ihrer unterdrückerischen Konsequenzen gern und profitabel weiß wuschen. Selbst die jeweils passenden Ideologien, vom Marxismus-Leninismus und Stalinismus über den Neoliberalismus der 90er Jahre bis zur faschistischen eurasischen Ideologie, sind kein rein russisches Eigenprodukt.
Als vor ein paar Wochen eine zuvor festgesetzte Hundert-Millionen-Yacht den Hamburger Hafen verlassen durfte, wurde zur Begründung mitgeteilt, man habe nicht nachweisen können, dass sie, wie vermutet, einem russischen Oligarchen gehöre. Schließlich habe dann ein saudischer Prinz sie als Eigentum beansprucht. Dank der EU-Sanktionen versuchen jetzt ganze Ermittlungsteams, herauszufinden, was in Deutschland wem gehört. Man erinnert sich an den Cum-ex-Skandal, der möglich wurde, weil die Finanzbehörden zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht wussten, wer gerade Eigentümer der jeweiligen Multi-Millionen-Aktienpakete war – und deshalb nicht entrichtete Steuern zurückzahlten. Hyperreiche Menschen, so kann man es formulieren, haben auch in Deutschland Rechte, die normale Leute nicht haben.
Wer in den Spiegel schaut, sieht sich selbst: unser Europa, in dem Oligarchen aller Länder ihr Geld in Sicherheit bringen und bei Bedarf politische Entscheidungen beeinflussen können; die demokratischen Staaten der Welt, die Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde auf ihre Fahnen geschrieben haben und stattdessen die neu entstandenen digitalen Kommunikationsinfrastrukturen samt ihrer historisch einmaligen Macht- und Manipulationsmöglichkeiten nicht demokratisch kontrollieren konnten, sondern sie einem Dutzend privater Monopole – bzw. deren superreichen Besitzern – überlassen haben. Das seien ja nur „privatwirtschaftliche Unternehmen“, würden Merkel und Scholz wohl sagen. Es genügt, sich vorzustellen, dass nicht ein etwas skurriler, aber doch meist irgendwie und – hoffentlich auf Dauer – liberal handelnder Milliardär wie Elon Musk Twitter kauft, sondern rechtsideologische Irrläufer wie Peter Thiel, die Koch-Brüder oder die Murdoch-Family.
Oligarchismus ist eine Form der Organisation von Macht. Politisch verträgt er sich auf Dauer nicht mit Demokratie und gefährdet das friedliche Zusammenleben von Staaten und Kulturen, wirtschaftlich ist er das Gegenteil von sozialer Marktwirtschaft. Er hat uns fest im Griff. In den oligarchisch umgebauten, aber demokratisch regierten Regionen auf der ganzen Welt haben deshalb immer mehr Menschen das Gefühl, es komme auf sie, auf ihre Rechte und auf ihre Meinung nicht an. Wie in Russland identifizieren sie sich auch in Frankreich, Italien, Indien oder den USA lieber mit autoritären Figuren, Machtmenschen, die behaupten, sie würden ihre Interessen vertreten – anstatt mit den komplizierten Regeln von Demokratie und Rechtsstaat, in denen sie sich allzu oft als Verlierer fühlen müssen. Dass solche Autokraten für sich in Anspruch nehmen, ihre Ziele auch gegen die Mehrheit zu verwirklichen, nehmen sie in Kauf.
Und nein, es hilft nicht weiter, die ökonomische Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche zu beklagen. Sie ist extremer denn je, und sie spielt gewiss eine wichtige Rolle. Aber am Ende läuft dieses Argument darauf hinaus, den französischen und amerikanischen ArbeiterInnen oder der ländlichen Bevölkerung in Mecklenburg Vorpommern zu erklären, dass sie nicht in der Lage seien, ihre „wahren“ politischen Interessen als „Arme“ und „Modernisierungsverlierer“ zu erkennen. Eine Art besserwissender Aufklärung „von oben“, die in der deutschen Geschichte schon einmal gescheitert ist. Weil niemand sich selbst und die eigene Biografie derart entwertet sehen möchte, besonders diejenigen nicht, die täglich ihre knappen Einkommen durch sehr viel Arbeit erwirtschaften müssen.
Es geht also um Macht – und um Ohnmacht, das heißt um Demütigung und Unfreiheit. Darum, wie sie in der Öffentlichkeit und vom Staat verteilt werden. Während die Oligarchenyacht mit dem unklaren Eigentumsnachweis der Sonne entgegenschippert, wird die Taxifahrerin in Frankfurt oder Berlin auf den Eurocent genau transparent gemacht: Ihr Taxameter ist online mit dem Finanzamt verbunden.Was mag sie denken, wenn sie die Nachricht von der rechtsstaatlich gesicherten Milliardärsfreiheit liest? Und was denkt sich der Gaststättenbesitzer, über den der Staat ebenfalls alles weiß – schließlich werden auch die abendlichen Umsätze an der Kneipenkasse online weitergeleitet? Es ist derselbe Staat, der nicht weiß und nicht wissen will, wem die Firma gehört, in Luxemburg oder Panama beheimatet, die die Gaststätten-Immobilie mit Mitteln aus unklarer Herkunft gekauft hat, ohne wenigstens die für einfache Menschen fällige Grunderwerbssteuer zu entrichten.
Dabei ist der demokratische Staat vielleicht noch der freundlichere Patron. Neben der millimetergenauen Kontrolle durch das Finanzamt gibt es schließlich noch die „privatwirtschaftliche“ Überwachung durch die Schufa. Auch da ist die Machtverteilung ähnlich: Wer wenig Geld hat, wird bis aufs Hemd durchleuchtet. Die Regeln setzen die Eigentümer fest, derzeit in der Mehrheit Banken und Handelsunternehmen, die die Daten von 67 Millionen Menschen kontrollieren.
Das ungemütlichste am russischen Oligarchismus ist, dass er nicht nur „russisch“ ist, sondern global: Er bedroht die Demokratie durch die Spaltung der Gesellschaft in neue, urbane, häufig jüngere, gut ausgebildete, demokratisch denkende Bevölkerungsschichten auf der einen und die BewohnerInnen ländlicher, zurückgelassener Gegenden mit überalterter Bevölkerung und Sympathie für illiberale Potentaten auf der anderen. Russland ist da den meisten Ländern Europas und auch den USA nur frappierend ähnlich.
Die Demokratie zu verteidigen bedeutet, rechtzeitig Verhältnisse zu verändern, die sie bedrohen – und ein moderner Pazifismus müsste dasselbe Ziel verfolgen. Es ginge also darum, die Machtverteilung des Oligarchismus in Frage zu stellen, Und anders als bei den auch von den Herren Kubicki und Merz begrüßten Waffenlieferungen wird und muss es hier Streit geben, wenn die für hyperreiche Menschen und sehr mächtige Unternehmen vorbehaltenen Privilegien und Sonderregeln zurückgebaut werden.
Ein entscheidender Schritt könnte dabei eine Offenlegungspflicht für große Vermögen sein, wie sie die amerikanische Osteuropa-Historikerin und Publizistin Anne Appelbaum in einer Expertise für den amerikanischen Kongress gefordert hat. „Indem wir Putin und anderen Kleptokraten freie Hand gelassen haben“, schreibt sie, „haben wir die Demokratie gefährdet.“ Aber: „Wir haben die Macht, dieses Business-Modell zu zerstören. Wir könnten für alle Immobilientransaktionen, überall in den USA, vollständige Transparenz fordern. Wir können fordern, dass alle Unternehmen, Stiftungen und Investment-Fonds auf den Namen ihrer tatsächlichen Besitzer registriert werden. Wir können Amerikanern verbieten, ihr Geld in Steueroasen anzulegen, und wir können allen amerikanischen Anwälten und Rechnungsprüfern verbieten, für Steueroasen zu arbeiten. Wir können Kunsthändler und Auktionshäuser zwingen, Geldwäsche-Prüfungen durchzuführen und wir können all die Schlupflöcher schließen, die in der private-Equity und Hedgefonds-Industrie Anonymität erlauben. Wir können einen diplomatischen Kreuzzug starten, um andere Demokratien davon zu überzeugen, dasselbe zu tun. Diese Praktiken zu beenden, würde das Leben für die Kleptokraten dieser Welt sehr viel ungemütlicher machen. Und es könnte den Vorteil haben, dass auch unser Land gesetzestreuer und freier von Autokraten-Einflüssen würde“ (The Atlantic, 15.03.2022, Übersetzung RS).
Applebaums Vorschlag könnte der erste Punkt in einem politischen Arbeitsprogramm sein, das Demokratieförderung qua Durchsetzung demokratischer Verhältnisse zum Ziel hätte. Es wäre ein umfangreiches Vorhaben, das von wirksamer Kartellkontrolle, wie sie für die geistigen Vorkämpfer der sozialen Marktwirtschaft als Konsequenz aus der Erfahrung des deutschen Nationalsozialismus selbstverständlich war, über Schutzregeln für Informationsinfrastrukturen bis zur wirksamen Bekämpfung der Alltagskriminalität im Netz reicht, von den Aktivitäten der EU-Kommission gegen den Missbrauch von Kommunikations- und Technologiemonopolen bis zur Beachtung von Menschenrechten und Klimarisiken bei der Handelspolitik. Schließlich ist Deutschland nicht nur bei der Energie von Diktaturen abhängig. Nicht nur eine soziale und ökologische, sondern auch eine friedens-, sicherheits und menschenrechtspolitisch aufmerksame Marktwirtschaft wäre der neue Orientierungspunkt. Um es mit Amartya Sen, dem Träger des Wirtschaftsnobelpreises zu sagen (der dabei einen Satz von Hannah Arendt abgewandelt hat): Das Ziel von Wirtschaft ist Freiheit.
Wie Macht in der Gesellschaft verteilt wird, ist die entscheidende Frage der Demokratie: Zwischen Bürger*nnen und Staat, Kundinnen und Anbietern, Arbeitnehmern und Unternehmern, Schülern und Lehrern, Kindern und Eltern, Frauen und Männern und Menschen, die sich zwischn diesen Kategorien nicht entscheiden möchten. In den letzten Jahrzehnten hat sich diese Machtverteilung dramatisch verändert, und ja, die Vermutung geht dahin, dass einige dieser Veränderungen für Krisen zumindest mitverantwortlich sind, mit denen Demokratien heute kämpfen. Andere Veränderungen haben unsere Welt, man kann es auf jedem Kinderspielplatz beobachten, demokratischer und freundlicher gemacht – und uns selbst offener und handlungsfähiger.
Jetzt ist Zeitenwende. Es wird Zeit, die Machtverhältnisse im Detail zu prüfen – und zu ändern.