vondie verantwortlichen 01.03.2022

Die Verantwortlichen

Roland Schaeffer fragt sich, warum vieles schief läuft und manches gut. Und wer dafür verantwortlich ist.

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Die Geopolitik sei zurück, heißt es, der Kampf der großen Mächte um die Beherrschung von Räumen und Völkern. Die Ereignisse der letzten Woche deuten darauf hin, dass etwas ganz anderes zurück ist, etwas Irrationales und für die Zukunft sehr viel Bedrohlicheres: Die ungesunde Konzentration von Macht bei haltlosen, narzisstischen, autoritären, persönlich unsicheren Männern, die nicht mehr aus ihren Echoräumen herausfinden. Individuen, die im Vakuum ihrer scheinbar unbegrenzten Macht den Boden unter den Füßen verlieren – und den Halt, den politische Normen, Gesetze und verbindliche gesellschaftliche Beziehungen geben können.

Die Bilder aus dem Kreml zeigen einen Diktator-Zaren, der es genießt, seine Mitarbeiter öffentlich zu demütigen, einschließlich seines Nachfolgers als Geheimdienstchef. Der sich eine lange und wirre historische Erzählung ausgedacht hat, die ihm eine historische Sendung zuschreibt und internationale GesprächspartnerInnen stundenlang damit traktiert. Der für die russische Öffentlichkeit ein bizarres Bauerntheater inszeniert und für die Weltöffentlichkeit die schlimmste mögliche Drohung. Eine einsame Herrscherfigur, wie sie Shakespeare sich ausgedacht haben könnte. Der „Oberste Sowjet“ und seine „Generalsekretäre“ waren, damit verglichen, spätestens seit Chruschtschows Zeiten vernunftgeleitete, berechenbare Institutionen und Personen.

Aber Geopolitik und Putin, das ist ein Widerspruch in sich. Das Konzept der Geopolitik unterstellt rational beschreibbare nationale und raumbezogene Interessen, deren Verwirklichung der Erhaltung oder Erweiterung von Macht dienen soll. Putins Ukraine-Feldzug hingegen ist ziemlich genau das Gegenteil. Als Katharina die Große, auf die er sich gern bezieht, die „russische Erde“ einsammelte, stärkte sie ihre militärische und ökonomische Macht. Hätte Putin sich mit dieser deutschen Fürstentochter ernsthaft beschäftigt, die im 18. Jahrhundert im Alter von 14 Jahren nach Moskau gebracht wurde, mit 16 einen Zarensohn heiratete, diesen später vom Thron putschte und u. a. die Krim und Teile der heutigen Ukraine vom Osmanischen Reich und Polen für das russische Reich eroberte, hätte ihm auffallen können, wie lange das her ist und wie unvergleichbar anders das heutige Russland. Die Geschichte Katharinas der Großen handelt von Menschen, die qua Geburt, dank ihrer adeligen Abstammung herrschen – und sie handelt von einer Erde, an die Menschen als Leibeigene fest gebunden waren. Menschen, die ihre Knochen für die militärische Macht zerschießen lassen und die für den Reichtum ihrer Herren arbeiten und hungern mussten. Mit wenigen Ausnahmen konnten sie weder lesen und schreiben. Über ihre Kultur, ihre Sprache, gar ihre Wünsche wissen wir wenig, Und die Zarin des multiethnischen russischen Imperiums musste sich darüber schon gar keine ernsthaften Gedanken machen.

Wenn überhaupt „Geopolitik“, dann praktiziert Putin heute eine Geopolitik für Arme. Von der Realität des 21. Jahrhunderts könnte sein angeblich so knallharter „geopolitischer Realismus“ nicht weiter entfernt sein. Er habe, so lesen wir, habe die Ukraine überfallen, um sie mit Russland nach deutschem Muster wieder zu vereinigen – oder um daraus mit Belarus und anderen ehemaligen Sowjetstaaten ein neues russisch-eurasisches Imperium zu formen. Ein Gegengewicht zu Europa und den USA. Entstehen soll es durch die Verbindung der nach Bruttoinlandsprodukt elftgrößten Volkswirtschaft – mit der 56ten und der 78ten.

Offenbar ist dem „schlauen“ Diktator nicht aufgefallen, dass die USA in den letzten hundert Jahren nicht durch Gebietsgewinne zur Weltmacht und zur größten Volkswirtschaft der Welt geworden sind. Dass auch die chinesische Macht auf wirtschaftlicher Stärke beruht, während die Konflikte um Tibet oder Xinjiang sie belasten. Die mächtigsten Konzerne der modernen Welt mit ihrem zauberhaften Reichtum ballen sich nicht auf ländlichem Großterritorium sondern auf wenigen kalifornischen Quadratkilometern. Die wirtschaftlich-kulturelle Attraktivität der amerikanischen Ost- und Westküste zieht die Eliten der ganzen Welt zu einer beispiellosen Konzentration menschlicher Intelligenz, Macht und technologischer Fähigkeiten zusammen. Mit der Beherrschung von Territorien hat sie ebenso wenig zu tun wie die Sanktionen im Finanzsektor mit gebündelten Rubelscheinen.

Putins imaginiertes Reich hingegen soll aus „Erde“, aus Fläche, zusammengeschweißt werden. Mit Gewalt: Er versucht, der Welt zu beweisen, dass es Gewalt ist, die in Form hochorganisierter Militärmaschinen über die Machtverteilung in der Welt entscheidet. Also nicht die staatliche Ordnung, die Wirtschaft oder gar die Leute selbst, in ihrer Vielfalt und ihrem Wunsch, ihren Lebensunterhalt zu sichern, freundlich behandelt zu werden, ihren Ideen zu folgen, über gleiche Rechte zu verfügen, kurz: In Freiheit zu leben.

Die offizielle Ideologie der aufgelösten Sowjetunion verkündete die Gleichheit aller Menschen – auch wenn die bürokratische Wirklichkeit mit dem hehren Anspruch wenig zu tun hatte. Nationalismus hingegen, also die Putinsche Präferenz für bestimmte Teilgruppen in der jeweiligen Bewohnerschaft, ist mit der zwangsläufig multikulturellen und multinationalen Realität seines neuen Staates oder Imperiums schon logisch nicht vereinbar. Umso verwirrender waren bis vor wenigen Tagen die Stimmen auf der linken Seite des politischen Spektrums, die ihre Sympathie für die sozialistischen Gleichheitsträume der Sowjets des letzten Jahrhunderts in einer halsbrecherischen intellektuellen Operation auf den Autoritarismus des heutigen russischen Nationalstaates und seiner Repräsentanten übertrugen – und daran auch dann noch festhielten, als dieser längst rechtsradikale Bewegungen überall in der Welt unterstützte.

Weshalb Ukrainer, Weißrussen oder andere Nationalitäten freiwillig ein Imperium mitbauen sollten, das von Beginn an nationalistisch zerrissen wäre und in dem die Verteilung von Macht und Ressourcen entsprechend zu ihren Lasten gehen würde, ist unerfindlich. Putins völkisch-nationaler Block kann deshalb nur ohne Zustimmung seiner künftigen BewohnerInnen entstehen. Es wäre ein „autokratischer Gulag“ (so die ukrainischen PolitikerInnen Olexandr Meretzko und Ivanna Klympush-Tsindsadze). Aber dieses neue Großrussland wäre auch ein gigantisches, atomar bewaffnetes Armenhaus. Während „wir“, Europa, der Westen, das ist die paradoxe und unangenehme Konsequenz, ein weiteres Mal zum Kriegsgewinner würden – weil viele Millionen vor allem junge und gut ausgebildete Menschen hierher flüchten, während Arme und Alte allein zurückbleiben. Ein riesiger Zustrom an Kreativität, Intelligenz, Leistungsbereitschaft in einen Arbeitsmarkt, der sie dringend braucht. Der wirtschaftliche Abstand würde immer weiter wachsen – zumal die Bodenschätze, auf die der Diktator sein Projekt gründen möchte, gegen die Vertiefung der wirtschaftlichen und am Ende auch machtpolitischen Kluft immer weniger helfen. Ihre Preise werden dann nämlich in Peking festgelegt.

In den letzten Tagen haben sich tausende UkrainerInnen entschieden, für ihre staatliche Selbstbestimmung zu kämpfen, unter Führung ihrer Regierung. Sie machen damit ihre eigene Geopolitik – im Gewand der Gegenwart, auf der Grundlage internationaler Verträge. Europa unterstützt diese Menschen, die ihre Koalitionen und Institutionen selbst gestalten möchten, mit Waffen. Ihr Feind sind nicht „die Russen“ – sondern das von Putin kommandierte russische Militär, inclusive seiner tschetschenischen Terrorbrigaden und der Söldnerbande von der „Gruppe Wagner“. Zugleich sanktioniert Europa die russische Wirtschaft und – wenn auch unvollständig – die Oligarchen in Putins direkter Umgebung.

Sanktionen treffen die Armen besonders hart und es dauert, bis sie wirken. Der Ökonom Thomas Piketty hat deshalb einen eigenen Vorschlag für ein Sanktionsregime gemacht. Sein Ausgangspunkt ist die bemerkenswerte Tatsache, dass rund 100 000 Russen (0,1 Prozent der Bevölkerung) mehr als jeweils zwei Millionen Dollar in Westeuropa in Sicherheit gebracht haben (Putins Eliten haben von Sicherheit, Nato oder Lebensqualität offenbar eine andere Vorstellung als ihr Diktator). Piketty möchte großzügig sein, er schlägt vor, die Vermögen derjenigen einzufrieren bzw. mit einer hohen Vermögenssteuer zu belegen, die mehr als 10 Millionen besitzen (rund 20 000 Personen bzw. 0,02 Prozent der erwachsenen russischen Bevölkerung).

Der Gedanke ist auch deshalb faszinierend, weil er auf die russische Elite zielt, jene, die verantwortliche Positionen einnehmen. Diese „Besserverdienenden“ müssten deshalb gewiss nicht hungern. Aber sie hätten, so Pikettys Hoffnung, einen guten Grund, ihre Loyalität zu einem Regime und seiner verbrecherischen Politik zu überdenken, von dem sie derart profitieren. Es ginge also nicht gegen „Russland“ – sondern gegen privilegierte soziale Gruppen, die auch auf politische Entscheidungen überproportional Einfluss nehmen.

Und anstatt “Russland“ zu isolieren, sollten wir darüber nachdenken, die zivilgesellschaftlichen Kontakte zu Russinnen und Russen zu intensivieren – diejenigen zumindest, die nicht für den Prestigegewinn des Regimes genutzt werden können, wie das bei vielen Sportereignissen der Fall ist. Der Appell einer Wissenschaftlergruppe an die EU , der vor einiger Zeit die Gründung einer Osteuropa-Universität an einem geeigneten Ort im Westen vorgeschlagen hat, wäre ein Beispiel. Es ginge darum, geflüchteten WissenschaftlerInnen aus Belarus, Russland und – vielleicht – der Ukraine einen Ort des Austauschs und StudentInnen eine Chance auf einen europäischen Studienabschluss zu bieten – und uns die Chance, diese Gesellschaften besser zu verstehen. Darum, auch auf die Klugheit der Menschen in Russland zu setzen. Und: 10 500 russische StudentInnen haben im letzten Semester hier studiert. Sollten es nicht noch viel mehr werden, damit sie zuhause berichten können: Die Russenfeindschaft, von der Putin gern schwadroniert, ist eine Fiktion, ein Leben ohne Polizeistaat, Korruption und gelenkte Medien ist ebenso möglich wie die Versorgung einer modernen Gesellschaft mit erneuerbaren Energien?

Der Jugendaustausch mit Frankreich war nach dem Zweiten Weltkrieg eine Grundlage für die Aussöhnung zwischen Feinden. Mit Russland haben wir einen solchen Austausch nie ernsthaft versucht.

Und ja, mit der Ukraine schon gar nicht. Wir haben sie ja jahrzehntelang kaum bemerkt. Stattdessen sind jetzt zehntausende UkrainerInnen auf der Flucht hierher.

 

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