Sie hat eine Vision. Also ist sie Visionärin als Substantiv, und sie ist visionär als Adjektiv, aber wie heißt das Verb, wenn sie Visionäres sagt? Visionieren? Auf deutsch vielleicht möglich, aber auf Schweizerdeutsch nicht – da ist visionieren schon vergeben für „sich etwas ansehen“. Und welche Eigenschaft verkörpert unsere Visionärin, wenn sie Visionäres sagt? Kann man dann sagen: „Das, liebe Frau Merkel, war eine Rede voller Visionarität!“?
Die Visionärin selbst kokettiert vor dem Publikum des Weltwirtschaftsforums in Davos sogar ein wenig damit. „Angesichts der täglichen aktuellen Schwierigkeiten weiß ich, dass das für viele ein bisschen zu visionär klingt“, sagt sie ganz am Ende ihrer Rede. Das kann aber eigentlich gar nicht sein – schließlich hatte Merkel schon in ihrer Neujahrsansprache gefordert, dass die deutsche Soziale Marktwirtschaft zum Vorbild für die ganze Welt werden solle. Und Neujahrsansprachen sind niemals visionär.
Außerdem: Wenn das, was Merkel heute sagt, „ein bisschen zu visionär“ sein soll – wie nennt man es dann, wenn jemand schon vor sechs Jahren so ziemlich das gleiche gefordert hat? Hypervisionär? Heide Neukirchen sah das im „Manager-Magazin“ damals anders: „Seine These von der Überlegenheit unseres Systems hält der Autor derart stur durch, dass selbst interessante Reformansätze als unseriös dargestellt werden. Sein wirtschaftspolitisches Drehbuch: Gewerkschaften stärken, Probleme im Konsens lösen, den Mittelstand zur Eroberung der Welt animieren und als Deutsche sendungsbewusst im Ausland auftreten. Die Bundesrepublik habe beste Chancen, in sieben Jahren (warum sieben?) zum „Musterknaben“ zu avancieren. Ende des Drehbuchs. Bei einer Wirtschaftspolitik à la Gürtler würde vor Ablauf dieser Frist mit hoher Wahrscheinlichkeit der Film reißen.“
Tja, Frau Neukirchen: Jetzt reißt der Film tatsächlich. Aber ja wohl eher nicht, weil seither eine „Wirtschaftspolitik à la Gürtler“ betrieben worden wäre, oder?