Schreibtischbilder
Ich bin mit einem Seestück aufgewachsen.
Das Bild hängt über dem Schreibtisch solange ich denken kann.
Vor dem Schreibtisch sitzt mein Vater und raucht Zigarren
der Marke Rössli, schaut sich die Kopie seiner Nahkampfspange und seines
Eisernen Kreuzes an, nimmt abwechselnd eine Auszeichnung in
die Hand, dreht sie zwischen seinen fleischigen Fingern und seufzt.
„Eigentlich ist der Russe ein gutmütiger Mensch.“
Das Gemälde zeigt eine unruhige See. Links ragt ein großes dunkles
Segelboot bis fast an die obere Kante des Bildes. Das Schiff fährt gerade aus
einer Flussmündung, drohende Wolken ziehen am Horizont auf
und es wird schwierig sein, durch den Sturm zu steuern.
Das fast Quadratmeter große Bild wirkt sehr alt, es ist durchgehend in
einem dunklen Ton gehalten und es ist nicht klar, ob diese dunkle
Färbung durch die Jahre entstanden sind oder vom Künstler als
bewusstes kompositorisches Stilelement benutzt wurde.
Das Bild hat seinen Platz, es wurde niemals umgehängt und wenn es einmal
ab- oder umgehängt wird, hinterlässt es auf der Wand eine helle flächige
Markierung.
„Ich wollte mit dir sprechen“, sagt mein Vater und schenkt
sich ein Glas Korn ein.
„Willst du einen Schluck?“
Es ist ein seltsames Gefühl, wenn der eigene Vater zum Trinken
ermuntert. Ich lehne ab. Er schenkt sich ein weiteres Glas ein.
„Dann eben nicht. Ich wollte mit dir sprechen. Nach dem Tod unserer Mutter,“
und er meinte damit seine Frau und meine Mutter, „möchte ich
mich von einigen Gegenständen trennen. Du hast doch Ahnung
von Kunst. Bitte nimm dieses Bild, das Seestück, und
versuche es in Berlin zu verkaufen. Ich habe es kurz nach dem
Krieg in Holland erworben.
Wir teilen uns den Gewinn.“
Vorsichtig nähere ich mich dem Bild und hänge es ab.
Es ist auf Holz gemalt und ohne
Rahmen. Mit einer Lupe suche ich nach einer
Signatur, kann jedoch keine finden.
Auf der Rückseite klebt der Rest eines unlesbaren
Schriftstückes neben einer pfenniggroßen Masse, die in einer
Vertiefung steckt, mit einem Gegenstand oder dem Daumen
vermutlich zerdrückt worden war und eine kurze rote
Spur auf dem Holz hinterließ.
„ Die Herkunft kann ich nicht bestimmen, keine Signatur und die
rote Farbe sagt mir auch nichts.“ Ich zeige die Rückseite
meinem Vater.
„Ja, ich habe das Bild oft angeschaut, vorn und hinten, nie habe
irgendeine Quelle entdecken können“.
Ich suche im Keller nach einer alten Decke, wickle das Seestück
ein und nehme es auf der Rückreise mit.
Nach einigen Wochen ruft mein Vater an und erkundigt sich
nach dem Seestück. Ich konnte ihm nicht sagen, dass ich seinen
Auftrag völlig vergessen hatte.
„Das läuft, ist in Arbeit. Ich hab da jemanden gefunden.“
Am nächsten Tag schaue ich ins Branchenbuch.
Ich spreche mit zwei Kunstexperten, die mehr Geld
für ihre Expertise haben wollen, als nach meiner
Schätzung das Bild Wert ist. Zu Trödlern will ich nicht
gehen.
Es kann nur jemand in Frage kommen, der ein echter
Experte ist und gleichzeitig kein Geld dafür verlangt, jemand
der ohne zu fackeln aus dem Stand ungefähr das Datum bestimmen
kann und einen möglichen Preis auf dem Kunstmarkt nennt.
Solche Experten befinden sich nur in Museen.
Ich wähle die Nummer der Gemäldegalerie, und lasse
mich zur Abteilung Alter Meister durchstellen.
„Hier Dr. Baumann, Gemäldegalerie.“
„Herr Dr. Baumann, ich habe da im Familienbesitz ein altes
Bild und hätte gern gewusst, von wem das ist und wie
wertvoll.“
„Da müssen Sie zu einem Sachverständigen gehen, wir machen
so etwas nicht individuell.“
„Aber ich habe schon einige Sachverständige angesprochen,
was die an Honorar verlangen ist nicht zu bezahlen. Ich
habe das Bild hier vor mir, könnte ich nicht vorbeikommen?“
„Also gut, ich mache eine Ausnahme, wenn Sie sofort,
also jetzt kommen.“
Ich nehme das immer noch in die Decke eingewickelte
Seestück, lege es auf den Rücksitz meines Autos und fahre
zur Gemäldegalerie.
Doktor Baumann begrüßt mich freundlich.
„Na, dann lassen Sie mal sehen und erzählen Sie es
nicht weiter. Es bleibt eine einmalige Ausnahme.“
Das Seestück liegt unverhüllt vor Doktor Baumann.
Er schaut lange auf die Szene, dabei hält er sein Kinn
mit einer Hand fest und stülpt gleichzeitig
seine Unterlippe etwas nach außen.
„Darf ich es einmal umdrehen?“
Der Fachmann zieht einen weißen Handschuh
über seine gespreizten Finger, hebt das Bild an, lässt es auf de
Kante senkrecht stehen und betrachtet die Rückseite.
„Interessant, interessant, wie lange haben Sie das Bild denn schon?“
„Ich bin damit aufgewachsen, es hing, solange ich denken kann,
über dem Schreibtisch meines Vaters.“
Ohne darauf zu reagieren geht Herr Baumann zu einem Schrank,
öffnet die Türen und greift einen der vielen Ordner heraus.
Zielstrebig schlägt er eine Seite auf.
„Hier haben wir es ja….. Holländische Schule, Mitte
des 16. Jahrhunderts. Öl auf Holz. Ein Bild aus der
Hoch-Zeit Holländischer Malerei,
eine Zeit der kreativsten Phase in der Holländischen Kunst.
Ein sehr schönes Stück. Ich kann auf Anhieb nicht sagen, wer
der Maler ist, aber das können wir feststellen.
Aber hier steht noch etwas Interessantes für Sie.“
Er hält mir den schweren Aktenordner unter die Nase.
„Hier, lesen Sie selbst. Von uns ausgeliehen an die Gemäldegalerie
Magdeburg, 1912, seitdem verschwunden.
Am besten, Sie lassen das Objekt gleich hier. Es gehört uns.“
Ich starre auf das Bild, einen Moment verschwimmt es vor meinen Augen.
„Die verschmierte kleine rote Masse war einmal unser
Siegel. Da hat jemand mutwillig zerstört, damit die Herkunft des
Bildes nicht rekonstruiert werden kann. Mit diesem Makel haben
Sie bei seriösen Händlern keine Chance, jeder Kenner sieht
sofort, dass mit dem Bild etwas nicht stimmt.
„Das muss ich mit meiner Familie besprechen“, antworte und
wickle das Seestück in die Decke.
Nach einer Woche kehre ich an die gleiche Stelle zurück
und übergebe das Seestück Herrn Baumann für die ständige
Ausstellung.
Schreibtischbilder.. May I repost it? 🙂