vonErnst Volland 02.05.2014

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Heizungsableser.

Meine Nachbarin bleibt auf der zweitletzten Treppe des dritten Stockwerkes stehen, als sie mich sieht, wie ich meine Wohnungstür zuziehe. Ihre rechte Hand umgreift fest das Treppengeländer, die soeben frisch gekaufte BZ (Berliner Zeitung) klemmt unter dem linken Arm.
„War das schön, oh, war das schön“, ihr Atem geht schwer.
Ich bin etwas verwirrt und weiß nicht sofort was sie mit „schön“ meint.
„Sie haben mir vor ein paar Tagen den Schlüssel für ihre Atelierwohnung gegeben, damit ich
den Monteur beim Ablesen der Heizung durch ihre Wohnung begleite. War das schön.“
„Ja, vielen Dank, alles prima und den Schlüssel habe ich in meinem Briefkasten gefunden,“
antworte ich. Sie schaut mich von unten an, einen Fuß auf dem letzten Treppenabsatz. Ihre Wohnungstür befindet sich direkt neben meiner auf der Etage. Seit fünfundreißig Jahren wohnen wir Backe an Backe. Sie war soeben das erste Mal in meiner Wohnung. Ich war noch nie in ihrer. Lange hatte ich überlegt, ob ich ihr Schlüssel und Wohnung anvertraue, doch der Heizungsableser hatte sich im ganzen Haus zu einer für mich sehr ungünstigen Zeit und mit einer Zeitspanne von vier Stunden angemeldet, dass ich mich entschloss, meine Nachbarin zu bitten.
„Ich war ja in ihrem Atelier, das habe ich zum ersten mal gesehen. War das schön.“
Mir war klar, dass meine Nachbarin die Gelegenheit nutzt, um sich meine Wohnung und das Atelier
genauer anzuschauen. Daher hatte ich drei große Bilder, auf einem war eine 2 x 3 Meter große Christuskreuzigung zu sehen, die im Atelier standen, nicht umgedreht oder weggeräumt. Ich dachte, die Christusfigur wird sie erfreuen, Ostern, das Fest der Auferstehung war gerade vorbei.
„Sie meinen die Kreuzigung?“
Die rot orange changierende Farbe erzeugt eine fluoreszierende Wirkung, der Körper erscheint transparent, das Motiv des sterbenden Christus schwebt im zeitlosen Raum.
„Nein, ihr Tisch, also so etwas schönes habe ich noch nicht gesehen. Ich habs’ auch gleich meinem Mann erzählt.“
Sie strahlt mich an und steht jetzt neben mir auf dem Treppenabsatz.
„So was schönes, ihr Tisch.“
„Einen Moment bitte.“
Ich öffne meine Wohnungstür.
„Kommen Sie doch bitte herein in mein Atelier, wenn Sie wollen.“
Dann rufe ich laut durch die Wohnung:
„Gerhard, kannst du mal kommen?“
Seit einer Nacht schläft der in Paris lebende Fotograf Gerhard V. für ein paar Tage bei mir.
„Kannst du meiner Nachbarin ein Foto von meinem Tisch machen?“
Wir gehen zu dritt ins Atelier zu meinem Arbeitstisch, auf dem hunderte von Buntstifte liegen.
Gerhard, zwei Meter groß, steigt auf einen Stuhl und fotografiert meinen Tisch.
Meine Nachbarin schaut nicht auf die Verrenkungen des Fotografen. Sie schaut auf den Tisch.
„Ist das schön,“ sagt sie.

Petkoff Buntstift 2
Foto:Privat

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