vonErnst Volland 12.01.2022

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Ernst Volland-Chaldej

Jewgeni Chaldej – Spuren eines Lebens

Ein Anfang

Jewgeni Chaldej lernte ich durch einen Zufall kennen. Weder wusste ich seinen Namen, noch vermochte ich seinen Namen mit seinem fotografischen Werk zu verbinden.

Im Jahr 1989, kurz nach dem Mauerfall, bekam ich im Dezember eine unerwartete Einladung nach Moskau. Ich sollte für den Auftritt verschiedener russischer Off-Theater in Berlin das grafische Outfit gestalten, Plakat, Flyer, Pressematerial. Das umfangreiche Projekt, das vom Berliner Senat finanziert wurde, förderte kulturelle Aktivitäten jenseits der offiziellen staatlichen Ebene, was mir zusagte und so nutzte ich diese Gelegenheit zu meinem ersten Besuch in die letzten Tage und Monate der zerfallenden Sowjet Union.

Eine ganze Woche lang im Januar 1990 sah ich Abend für Abend die diversen in Frage kommenden Theatergruppen live auf der Bühne. Durch die Straßen Moskau wehte ein scharfer Wind, es war bitter kalt und die kleinen Bühnen, meist in Kellern, unbeheizt. Dennoch war der Aufenthalt ein großes Vergnügen.

Mir wurde eine russische Hochschullehrerin zur Seite gestellt, Valentina, eine Professorin für Deutsch. Sie spielte die feine Dame, inszenierte sich als geheimnisvoll und stand kurz vor der Pensionierung. Wir mochten uns auf Anhieb. Tagsüber recherchierte ich in der aktuellen Moskauer Fotografenszene und besorgte mir eine Reihe interessanter Abzüge mir nicht bekannter Pressefotografen, die sich mit dem Thema Komik und Fotografie auseinander gesetzt hatten.

Anmerkung1 . Diese Recherche besorgte ich für meine Foto-Agentur Voller Ernst, spezialisiert auf komische, skurrile und ungewöhnliche Fotos. Ich konnte mir eine komplette s/w Sammlung aus den 60er und 70er Jahren der Sowjetunion zusammenstellen. Thema: Worüber schmunzelt der Russe.

Abends ging ich regelmäßig in die Theater, um mir ein Bild zu machen für meine grafische Arbeit.

Bei meiner Ausreise am Flughafen in Moskau verflog der Zauber des Aufenthaltes. Die Grenzbeamten bestätigten jedes Klischee über die sowjetische Bürokratie und Willkür. In den fahl erleuchteten, schmalen Durchgangskorridoren existierte nicht nur eine gewisse Ehrfurcht vor den Repräsentanten der noch bestehenden Sowjetunion in ihren Uniformen, man hatte vor allem ein mulmiges Gefühl. Nur nichts falsch machen. Waren zwei Flaschen Wodka zu viel im Koffer? Kam man zuerst in die Lubjanka, das berüchtigte KGB Gebäude, oder gleich in den Gulag?Der letzte Blick einer Grenzbeamtin über die Brille auf mich und auf meinen Pass in ihren Händen. Dann hörte ich den Knall des niedersausenden Stempels mit der sofortigen Berechtigung, das Land zu verlassen, und schon befand ich mich im Duty Free Bereich des internationalen Moskauer Flughafens Scheremetjewo. Der unterschied sich nicht von anderen Duty Free Zonen weltweit. Gewöhnlich meide ich diese Zone, doch damals empfand ich beinahe heimatliche Gefühle zwischen Stapeln diverser Kosmetika, Flaschen französischen Cognacs, Taschen und Koffern von Louis Vuitton und Prada, Klamotten von Boss – Back im Coca Cola Land.

Ein Jahr später, im Frühsommer 1991 wollte ich erneut Moskau besuchen. Die Zeit des Umbruchs hatte mich fasziniert. Die Moskowiter, so meine Erfahrung vom ersten Besuch, öffneten ihre Herzen nahezu jedem, der nach Moskau wanderte, und Valentina hatte mir Türen zu einigen Privatwohnungen und Redaktionen aufgestoßen. Die Reise kam mir im Rückblick vor wie ein Fest. Noch nie hatte ich so viel Wodka getrunken, trinken müssen.

Doch die Rückkehr nach Moskau gestaltete sich schwierig. Ich hatte Probleme, ein Visum zu bekommen.

Der Wunsch Moskau wiederzusehen schob ich vorerst auf die lange Bank. Doch der Zufall verkürzte die Wartezeit. Anfang Juni 1991 traf ich mittags beim Überqueren eines Zebrastreifens am Rathaus Schöneberg den Journalisten Michael Gaysmeier, inmitten einer russischen Delegation, unter ihnen der Moskauer Bürgermeister, angeheitert und in bester Laune. Man wollte sich eine Willy Brandt Ausstellung anschauen.

Ich erzählte Michael von meinen aktuellen Schwierigkeiten, ein Visum für Moskau zu bekommen. Er sagte, er werde sich darum kümmern. Ich hatte die Angelegenheit schon vergessen, als er zwei Tage später anrief und mich aufforderte, meinen Pass zu kopieren und ein Formular auszufüllen, das er mir zuschickte. In einer Woche sollte die Reise nach Moskau starten, unter der Flagge der SPD. An der Spitze Walter Momper, der sich freue, mich als Vertreter der Kulturschaffenden (ein fürchterliches Wort) mitzunehmen.

Die Delegation bestand aus 15 Personen. Den wichtigsten Grund für die Reise bildete neben der Etablierung einer sozialdemokratischen Partei in Russland, am 22. Juni eine Kranzniederlegung am Kreml, im Namen des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Das feierliche Zeremoniell sollte an den Einmarsch der deutschen Truppen vor fünfzig Jahren in die Sowjetunion erinnern. Nazijargon „Unternehmen Barbarossa“.

Das abwechslungsreiche Kulturprogramm unseres Besuches in Moskau bot am letzten Tag auch ein Treffen mit fünf Kriegsfotografen. Die Beteiligung war freigestellt. Ich hatte Valentina, die russische Hochschullehrerin, wieder als persönliche Dolmetscherin für meine Zeit in Moskau gewinnen können. Sie riet mir vom Treffen mit den Kriegsfotografen ab.

Da musst du nicht dabei sein. Das wird dich nicht interessieren, das ist altes Zeug, Schnee von gestern. Jetzt beginnt eine neue Zeit.“

Ich blieb aber neugierig und ging.

In einem Halbkreis saßen vier alte Männer und eine Frau. Ihre Namen sagten mir nichts.

Sie erzählten von ihren Einsätzen als Kriegsfotografen an der Front.

Einer von ihnen hatte als einziger sein Jackett ausgezogen und sein weißes Oberhemd erweckte in mir in diesen Momenten die Assoziation eines Friedenssymbols. Der Mann wirkte sehr lebendig und bestritt den größten Anteil des Gesprächs. Die anderen Teilnehmer schienen ihn als eine Art Sprecher zu akzeptieren.

Am Schluss des Gespräches forderte man uns höflich auf, zweihundert Meter entfernt in das Gebäude des Journalistenverbandes zu gehen, dort ein Gläschen zu trinken und eine kleine Ausstellung eines der beteiligten Fotografen anzusehen. Die Ausstellung zeigte Fotos von jenem Fotografen, der das weiße Hemd trug. Wir betraten den Ausstellungsraum, und ich war wie vom Blitz getroffen.

An den Wänden hingen, ungerahmt, großformatig, auf Karton geklebt, einige der bedeutendsten historischen Fotos deutscher und russischer Geschichte des 20. Jahrhundert.

Die sowjetische Flagge auf dem Reichstag. Göring und Mittäter bei den Nürnberger Prozessen. Stalin, Truman und Churchill auf der Potsdamer Konferenz.

Dazwischen Fotos mir nicht bekannter Kriegssituationen: Soldaten, Kriegsschiffe, Flugzeuge. Schon ein flüchtiger Blick auf die einzelnen Fotos zeigte die Meisterschaft bildlicher Kompositionen mit starkem expressiven Ausdruck.

Und der Fotograf, der all diese Aufnahmen gemacht hatte, stand direkt vor mir und lächelte mich an. Sein Name: Jewgeni Chaldej.

Die Flagge auf dem Reichstag. Dieses Foto kannte ich bereits aus Schulbüchern. Es ist neben dem Portrait Che Guevaras des kubanischen Fotografen Alberto Korda eine der fotografischen Ikonen überhaupt. Das Flaggen Foto symbolisiert das Ende des 2. Weltkrieges, das Ende Hitlers, das Ende des Faschismus, aber auch den Sieg der sowjetischen Armee.

Ich sah Chaldej an, beobachtete ihn, wie er das eine oder andere Bild erklärte. Immer wieder hörte ich das Wort „Wainä“, deutsch- Krieg, und dachte unwillkürlich an meinen Vater. An seine „Gute Nachtgeschichten“, die er uns fünf Kindern am Bett vor dem Schlafengehen erzählte.

Du bist allein im Schützengraben. Nahkampf. Mann gegen Mann. Keine hundert Meter vor dir lauert der Russe. Zuerst kommt ein Schub Mongolen. Die haben alle keine Angst, sind nur mit dem Messer zwischen den Zähnen bewaffnet. Sie springen in den Graben und dann packst du zu. Drückst die Gurgel, bis er zusammensackt. Hast du das überstanden, kommen die Panzer. Und dann die Stuka.“

Er imitierte das Geräusch des herab sausenden russischen Schlachtflugzeugs.

Ganz leichte Maschinen, aber gefährlich. Im Hintergrund, Kilometer entfernt, donnern die Stalinorgeln und schwere Geschütze.“

Wieder imitierte er das dumpfe Geräusch der großen Geschütze mit einer Zuspitzung des Mundes und einer Handfläche, die er vor den Mund führte, um ein tiefen, hallenden Ton zu erzeugen.

Ich habs überlebt. Eigentlich ist der Russe ein gutmütiger Mensch. Gute Nacht. Morgen erzähl ich euch eine neue Geschichte.“

Warum erinnerte mich dieser Mann, der Fotograf solcher kriegerischen Szenen, an meinen Vater? Es war eine Anmutung, ein unbestimmtes Gefühl, das ich wahrnahm. Was war so vertraut? Der etwas gebückte Gang? Die buschigen Augenbrauen, der massive Körper? Waren es rudimentäre frühe Kindheitserinnerungen aus dem Unterbewusstsein an die Nachkriegsjahre, die ich nicht mehr fassen konnte? Jetzt, in diesem Moment, mit diesen Bildern an der Wand und dem Menschen, der diese meisterlich fotografierten Fotos präsentierte, mitten im Zentrum Moskaus, verblüffte mich nicht nur das künstlerische Werk, sondern auch das direkte Auftauchen der unbeantworteten Fragen an die Zeit des Faschismus, des Krieges und das Wirken meines Vaters in dieser Zeit.

Ich hatte das Thema, das Lebensthema Krieg meines Vaters immer gemieden, bin ihm ausgewichen, wo ich nur konnte. Nun war es wieder präsent, jedoch in anderer Form. Mit dem Blick des ehemaligen feindlichen sowjetischen Kriegsfotografen schien das Thema meines Vaters, das zentrale Thema seiner Generation und meiner Generation fünfzig Jahre nach Ende des Krieges plötzlich wieder aktuell zu werden. Der 2. Weltkrieg und seine Folgen.

Die Persönlichkeit von Jewgeni Chaldej und sein Werk hatten mich in Bann geschlagen.

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