vonErnst Volland 16.01.2022

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Jewgeni Chaldej  2. Mai 1945, Reichstag Berlin

 

2. Teil

Nach der Besichtigung der Ausstellung fuhr ein Bus vor und holte uns zum späten Mittagessen ab. Chaldej saß mit im Bus. Der Zufall wollte es, dass ich im Restaurant neben ihm saß.  Der erste Wodka kam auf den Tisch. Jemand sagte ein paar Worte, dann wurde getrunken. Chaldej und ich kamen ins Gespräch. Am Ende des Essens, nach weiteren  Wodkas, lud Chaldej mich spontan in seine Wohnung am Stadtrand von Moskau ein. 

„Kommen Sie, ich habe tausende von Negative, bitteschön. Hier, schauen Sie, alles da. Was interessiert Sie? Stalin? Churchill? Ich habe sogar noch Jelzin als er ein Samen war. „ 

Er schmunzelte und seine Brille, die wie ein deutsches Nachkriegskassenmodell mit marmeladendicken Gläsern aussah, verrutsche auf der Nase. 

„Gorbatschow ? Ja Gorbatschow habe ich auch noch fotografiert, bitteschön.“

Ich fragte ihn, ob ich ein Buch und eine Ausstellung in Berlin mit seinen Fotografien organisieren dürfte. 

“Eine Ausstellung in Berlin, ja gern, kommen Sie.“ 

Doch direkt nach dem Essen war die Rückreise der Delegation nach Berlin vorgesehen. 

Ich versprach wieder zu kommen. 

Das Gespräch verfolgte einer der Delegationsteilnehmer, der mich noch am Tisch zur Seite nahm. Er gab mir zu verstehen, dass er bereits eine Veröffentlichung mit Chaldej plane und ich mir einen anderen Fotografen suchen solle. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie schwierig die Zusammenarbeit mit Chaldej sein würde und wie viele Personen  noch auftauchen werden, die meinten, Rechte an den Arbeiten von Chaldej zu besitzen. Doch ich nahm die Warnung  ernst und kontaktierte Chaldej nicht. Nach mehr als einem Jahr, nachdem aus dem angekündigten Projekt des Delegationsteilnehmers nichts zu werden schien,  rief ich  Valentina an und bat sie, Chaldej zu besuchen und anzufragen, ob er noch Interesse an einer Zusammenarbeit mit mir habe. Er hatte.

Freiburg

In einem hell erleuchteten Raum stehen dicht gedrängt über zweihundert Menschen. Sie wollen den russischen Fotografen Jewgeni Chaldej sehen und mit ihm sprechen. An den Wänden links und rechts hängen 90 seiner Schwarzweiß – Fotos, eingefasst in matt weissen Passpartouts  und schmalen Aluminiumrahmen. Legendentafel informieren über Zeit und Ort der Bilder. Es ein kalter Herbsttag im Jahr 1995 und der Eröffnungsabend der Ausstellung in Freiburg im Breisgau. 

Chaldej stellt sich jetzt den Fragen des Publikums. 

Er sitzt in einem dunklen Anzug gekleidet auf einem Podest, am Revers links stecken drei bis vier verschiedene Medaillen und Orden, wie man sie bei russischen Veteranen an Gedenktagen oft sehen kann. Auf Brusthöhe hängt an einem Lederriemen seine Kamera, eine Leica. Das Licht der beiden Scheinwerfer an der Decke spiegelt sich bei leichten Bewegungen Chaldejs in den Brillengläsern, die fast die Hälfte seines Gesichts bedecken.

Der Fotograf, durch dessen Augen einige der grausamsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts gegangen sind, ist inzwischen fast blind. Sein Gehstock liegt auf einem Beistelltisch, griffbereit neben ihm.

Soeben beendet der Redner seine einführenden Worte, eröffnet die Diskussion und bittet um Fragen, als auch schon mehrere Finger hoch gehen und einige Besucher ohne abzuwarten ausrufen:

„Das Foto mit der Flagge, das ist doch gefälscht“, und ein anderer ergänzt, „Das ist inszeniert, das sieht doch ein jeder“, und ein dritter meint „mit dem Foto stimme etwas nicht.“ 

Unruhe im Publikum.

Auf diese Frage scheint der Fotograf vorbereitet zu sein. Diese Frage, die keine Frage ist, sondern eine Behauptung, sogar ein Vorwurf, hat man ihm sicherlich schon öfter gestellt.

Chaldej antwortet mit ruhiger Stimme und in deutscher Sprache „Das ist gutes Foto, bitte nächste Frage.“

Neben Chaldej sitzt Pavel Feinstein, ein Maler, der eigens mit mir aus Berlin gekommen ist, um das Gespräch zu dolmetschen und auch um Chaldej während des Aufenthaltes in Freiburg zu betreuen.

Die Ausstellung war lange vorbereitet. Sie fand nicht in einem der Freiburger Museen oder im Kunstverein statt, sondern in einem Gebäude der Universität. 

Es war ausführlich und lange zuvor mit Chaldej ausgemacht worden, dass er von  Moskau nach Frankfurt fliegt und dort am entsprechenden Flughafen Gate von Pavel und mir abgeholt wird. Pavel und ich reisten bereits einen Tag früher mit dem Auto aus Berlin an, um Chaldej, der mittags landen sollte, auf keinen Fall zu verpassen. Doch Chaldej kam nicht durch das für den Flug aus Moskau vorgesehene Gate.

Bei der letzten Ausstellungseröffnung in Hamburg hatte die Kommunikation noch  reibungslos geklappt. Chaldej landete auf dem Flughafen Tegel, übernachtete in Berlin und am nächsten Tag fuhren wir gemeinsam mit dem Zug nach Hamburg. 

In Frankfurt überprüften wir nun die Ankunftszeit seines Fluges aus Moskau, vergewisserten uns, dass wir am richtigen Ausgang gewartet hatten, fragten das Servicepersonal, beim Roten Kreuz und anderen Hilfsorganisationen nach, ohne ein positives Ergebnis.

Was tun? Schließlich ließen wir den Namen des Fotografen Jewgeni Chaldej auf dem riesigen Gelände des Frankfurter Flughafens über Lautsprecher in deutscher  und russischer Sprache ausrufen. Ergebnislos. 

Inzwischen waren drei Stunden vergangen. Wir gaben die Suche auf und fuhren nach Freiburg. Vielleicht war Chaldej gar nicht in Moskau eingestiegen? Diese einzig verbliebene Möglichkeit favorisierten wir.

In Freiburg angekommen, riefen wir bei Anna, der Tochter von Chaldej in Moskau an, um zu erfahren, ob Chaldej  abgeflogen ist. Sie war den Tränen nahe und lamentierte,

 „Was habt ihr mit meinem Papa gemacht, was habt ihr mit meinem Papa gemacht.“ 

Er war, wie sie versicherte, rechtzeitig ins Flugzeug eingestiegen und von Moskau abgeflogen. Bis spät in die Nacht riefen wir im Halbstundentakt bei Anna an, ob sich etwas Neues ereignet hatte und um ihr zu sagen, dass wir nicht wissen, wo Chaldej ist.

Am nächsten Morgen klingelte das Telefon sehr früh und Anna berichtete, dass ihr Vater sich in einem Hotel in Freiburg befindet und wohlauf sei. Das Hotel lag zu unserer Überraschung, nur ein paar Minuten zu Fuß von dem Ort entfernt, an dem Pavel und ich bei Verwandten übernachteten. Sofort machten wir uns auf den Weg und meldeten uns von der Rezeption aus telefonisch in seinem Zimmer. Chaldej  war sofort am Apparat.

„Ich kenne keinen Ernst, ich kenne keinen Pavel“.

Dann legt er auf. Fünf Minuten später riefen wir erneut an. Chaldej geht nicht ans Telefon. Nach mehreren Versuchen und einer verstrichenen Stunde knurrt er ins Telefon. 

„Nur wenn ihr eine Flasche Wodka dabei habt, dürft ihr rauf kommen.“ 

Wir gehen in den nächsten  Laden und kaufen Wodka. Dann rufen wir wieder an.

„Habt ihr Wodka dabei?

„Ja“.

 „Raufkommen!“ 

Wie zwei begossene Pudel stehen wir in der Tür seines Hotelzimmers. 

„Wo ist der Wodka?“ 

Ich gebe ihm die Flasche. „Hinsetzen, trinken“.

Damit war der erste Rauch verflogen. Chaldej hatte uns in Frankfurt verpasst und sich dann auf eigene Faust auf den Weg gemacht in die Stadt,  von der er nur den Namen wusste:  Freiburg. 

Mit einem Taxi fuhr er zum Flughafenbahnhof, stieg in Karlsruhe um und ließ sich dann in irgendein Hotel bringen. Dieser Mann, halb blind und am Krückstock gehend, schien immer noch unerschrocken und furchtlos zu sein, komme was da wolle.

Chaldej trank zu jeder Zeit Wodka. Der Alkohol veränderte in keiner Weise sein Verhalten. 

Es war, als ob er Wasser getrunken hatte. Inzwischen 77 Jahre alt, beeindruckte er mit einem phänomenalen Gedächtnis. Er hörte noch gut, sein Augenlicht wurde zwar immer schwächer, doch ihm entging nichts. Einige wenige Sätze sprach er Englisch aber vor allem Jiddisch, so dass wir uns im Alltag  einigermaßen verständigen konnten.  

Im Publikum der Ausstellungseröffnung befand sich ein deutscher Veteran, der  bei der Erstürmung des Reichstages durch die Rote Armee auf Seiten der deutschen Wehrmacht dabei war.  Er kämpfte am „Fuße des Reichstags“, wie er sagte, gegen die Rotarmisten und überlebte. Es wurde eine freundliche Begegnung zwischen ihm und Chaldej. Beide tauschten Erinnerungen aus.

Dann fragte jemand aus dem Publikum, wie  sich Chaldej denn fühle, nach so vielen Jahren wieder in Deutschland zu sein, unter Deutschen. Er antwortete: „Eines Tages erfuhr ich, dass die Deutschen in Stalino, heute Donezk, meiner Heimatstadt, meinen Vater und drei Schwestern umgebracht haben. Sie wurden nicht erschossen, sondern lebendig in Kohleschächte geworfen: Zusammen mit 75 000 Menschen! Das war 1941/42. Da habe ich die Deutschen sehr gehasst. Ich kann vergeben aber nicht vergessen. Leider musste ich später erfahren, dass viele Russen kräftig dabei mitgeholfen haben. Es waren Menschen wie Sie und ich. Sie haben das ohne Zwang gemacht.“

Man hörte im Raum nicht eine Stecknadel fallen. 

Am nächsten Tag fuhren wir auf Einladung des Kulturbürgermeisters der Stadt Freiburg in die Schweiz. Uns wurde ein Fahrer mit Auto zur Verfügung gestellt und Chaldej   gefragt, wohin er fahren möchte: Frankreich, Schweiz oder durch das badische Land. Er entschied sich für die Schweiz.

„1946, zur Pariser Friedenskonferenz, war ich in Paris, also in Frankreich. In der Schweiz war ich noch nie. Ich möchte dorthin fahren, meinen Fuß auf den Boden setzen und wieder zurück fahren.“

Chaldej war und ist nicht nur ein sehr bedeutender Fotograf sondern auch ein wichtiger Zeitzeuge. In diesen beiden Eigenschaften wurde er auch zu einer Dokumentation des ZDF eingeladen. Der Sender übernahm die Kosten für nur zwei Nächte, für ihn und seine Tochter, die ihn auf dieser Reise begleitete. Da es Chaldej in Berlin gut gefiel, fragte er meinen Partner in der Fotoagentur Voller Ernst, Heinz Krimmer, und mich, ob er mit seiner Tochter noch ein paar Tage länger im Hotel bleiben könnte. Wir sagten zu und  Chaldej und seine Tochter verbrachten weitere vier Tage mit uns in Berlin. 

Allerdings waren wir nach Erhalt der Hotelrechnung über deren Höhe etwas überrascht. Der Anteil der Rechnung für die im Zimmer eingebaute Minibar mit ihren diversen Getränken fiel höher aus als die Übernachtungskosten. Chaldej muss die Getränke, die täglich in den kleinen Kühlschrank scheinbar wie von selbst ergänzt wurden, als Gratisangebot verstanden und jeden Besucher und sich selbst damit versorgt haben.

 Vor der Rückreise nach Moskau lobte er das Hotel, deutete aber an, lieber privat zu wohnen. Er fragte mich deshalb nach anfänglichem Zögern, ob es  möglich wäre, das nächste Mal privat unter zu kommen, möglichst in meiner Wohnung. Es war für ihn keine Kostenfrage, er suchte die vertraute Nähe.

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