vonErnst Volland 03.02.2022

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Jewgeni Chaldej wurde am 10. März 1917 in Juzovka, einer Kohle und Stahl- Stadt im Donabasgebiet/Ukraine geboren.

Er war der Jüngste von sechs Geschwistern, sein Vater arbeitete als Buchbinder und gelegentlich als Musiker. Nur wenige Tage nach seiner Geburt nahm ihn seine Mutter auf dem Arm mit zum Einkauf in den Laden eines jüdischen Verwandten. Im Zuge eines Progromes überfielen brutale Mörder das kleine Geschäft. Zeit seines Lebens war die Narbe zu sehen, die jene Kugel hinterließ, die durch den Körper der Mutter hindurch auch ihn getroffen hatte. Seine Mutter überlebte diesen Gewaltakt nicht. Das war, so erzählt es Chaldej, „am 13. März 1917, einen Tag vor Ostern, und auch zwei unserer Freunde starben, die sich gerade in unserem Laden aufhielten.“ 

1917 war das Jahr der russischen Oktober-Revolution. 

Die Familie Chaldej. Links der Vater, Jewgeni Chaldej in der Mitte, umringt von seinen Schwestern Riwa, Etia, Zilia und Frida. 1940

Chaldej verbrachte fast sein ganzes Leben hinter einem Vorhang, der aus Eisen war, ein eiserner Vorhang,  so hatte ich die Bezeichnung der Grenze zwischen West und Ost als Kind gelernt. Der kalte Krieg teilte die Welt in zwei Hälften und Chaldej befand sich in der einen, dunklen, kalten, kommunistischen Kalaschnikowhälfte, während ich als Nachkriegskind in der Coca Cola Hälfte lebte, bei Sonnenschein, Schnitzel und zunehmend ungezügelter Mobilität. 

Der Eiserne Vorhang, die Demarkationslinie, teilte auch Deutschland. 

Zu den „Brüdern und Schwestern dort drüben“  hatte der eine oder andere individuellen und familiären Kontakt. Zu den Menschen, die in einem Land weit hinter den sieben Bergen, irgendwo bei Sibirien wohnten, und das allegorisch in den Medien als aggressiver massiver Bär mit Schlitzaugen und gefräßigen Zähnen dargestellt wurde, hatte man keinen Kontakt, man wollte auch absolut keinen. Wohnten dort überhaupt Menschen? Waren es nicht eher mechanische Figuren in Uniformen? Saß dort nicht das personifizierte Übel schlechthin?

Auch die nachfolgenden Jahre brachten uns die Menschen, die hinter dem Eisernen Vorhang lebten, nicht näher. Im Gegenteil – eher entfernte sich der Blick. Wie es im Innern des riesigen Reiches der Sowjetunion aus sah war nicht zu erfahren. Man kannte den russischen Menschen nur aus unseren Medien. Der Bildschirm zeigte einen grauen verhangenen Schneehimmel, auf der Straße Schlangen mit schlecht gekleideten Menschen und um die Ecke wartete ein Panzer mit Soldaten. Jahr für Jahr im Mai und Oktober sah man Militärparaden und alte Herren mit und ohne Uniform auf der  Empore des Kremls, die langsam mit dem Arm den vorbeiziehenden Raketen und anderem militärischem Gerät zuwinkten.

Jetzt saß einer dieser alten russischen Herren, der zumindest Kontakt zu verschiedenen Personen aus der sowjetischen Führungsriege über die Jahre hatte, in meiner Küche in Steglitz vor mir. Die dicke Brille verschattete die Augen. Sah er mich an? Was dachte er?

Mein eigener Blick auf Chaldej schien mir wie der Blick auf eine geschlossene Auster. Im Innern ruhte eine funkelnde Perle, davon war ich fest überzeugt, und ich hatte die Chance, die Auster zu öffnen und die Perle zu finden. Ich wusste von den ersten Originalfotos, die ich von Chaldej in Moskau sah, dass ich es mit einem Jahrhundertfotografen zu tun hatte. Ich werde alles daran setzen, sagte ich mir, diesen Mann in Deutschland und darüber hinaus bekannt zu machen, seinen Namen Jewgeni Chaldej mit seinem Werk verknüpfen, so wie es bei anderen berühmten Fotografen üblich war. So verbinden nicht nur Fotokenner bestimmte Frauenfiguren mit der Fotografie Helmut Newtons oder sachlich fotografierte Architektur oder Naturstudien sofort mit dem Fotografen Renger-Partzsch. 

Dieses Vorhaben stellte  die eine faszinierende berufliche und für mich künstlerische Seite da, die in der Auster verborgen schien. Doch tief drinnen im Innern der Perle steckte mehr. Neben der Fotografie ruhte in diesem Mann, der im Jahr der russischen Revolution geboren war und der im Jahr 1989, dem Jahr des Mauerfalls aufgehört hatte zu fotografieren, weil seine Augen versagten, die gesamte Periode der Sowjetunion. Ich konnte keinen besseren Prototyp finden. Wer war dieser durch und durch sowjetische Mensch? Gerade das jahrzehnte Abgeschottete machte mich neugierig. 

Chaldej faszinierte und überraschte mich im täglichen Umgang. Gerade noch stand die Mauer rund um Westberlin (Berlin-West, oder nur Berlin), zog sich die Oder/Neiße Linie nur siebzig Kilometer von Berlin entfernt am Grenzort Frankfurt Oder entlang, dort hinzukommen war so gut wie unmöglich,  und jetzt hebt Jewgeni den Kopf, lächelt, tastet nach der Wodkaflasche und sagt. „Noch einen Wodka, nur noch einen. Ich bin müde. Du auch? Lass uns schlafen gehen.“

Wir hatten uns aufeinander eingelassen, der alte große Mann, der außergewöhnliche Fotograf aus Moskau und ich, kritischer Künstler, dreißig Jahre jünger und Sohn eines deutschen Soldaten, der 

auf seinem Schreibtisch  Bücher mit Landkarten aufgeschlagen liegen hatte, mit Feldzügen der deutschen Wehrmacht bei der Belagerung Leningrads, dort, wo auch Chaldej zum Fotografieren abgeordnet war. 

Landkarten aus dem Gebiet der Ukraine, auf die mein Vater mit kleinem schwarzer Feder Städte einkreiste mit seinen Frontstellungen unter anderem in Charkow/Ukraine und auch die Nähe der Heimatstadt Chaldejs im Donezk Gebiet.

Wenn Chaldej in meiner Küche saß, zaghaft zum Brot griff, so sah ich in seiner Schüchternheit eine Vornehmheit, die nicht eine adlige oder bürgerliche Attitüde war. Vielmehr zeigte mir sein Griff nach dem Brot, nach einem Stück Käse oder Wurst, sein Betasten der Telleroberfläche, das Zurechtschieben von  Gabel und Messer, eine Ehrfurcht diesen einfachen Dingen gegenüber, die er in seiner Jugend und als Fotograf während des Krieges oft  entbehrt hatte. 

Wenn wir aus dem Haus gingen und vor die Tür traten, blieb er einen Augenblick stehen, blickte in den Himmel und sagte bei Regen fast immer:

„Ah, gut, Regen.“

Das war bemerkenswert, wo doch jeder in meiner Nachbarschaft sich über zu häufigen Regen mokierte.

Chaldej verfügte über ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen, ganz besonders wenn es seine fotografische Arbeit betraf. Ich hatte ihn deshalb mit der Unternehmerin und Übersetzerin Karin van Mourik ein Jahr zuvor in Moskau für die erste geplante Veröffentlichung im Westen, einer Monographie, detailliert zu seinen Fotos befragt. „Ich weiß noch, wie jeder einzelne hieß, worüber wir miteinander gesprochen haben, auch wie er gefallen ist. Wir waren alle gute Freunde.“ 

Er erinnerte den Tag, das Jahr, den Ort. Und natürlich kannte er das Geschehen. Es war kein Auftrag, es war mir ein inneres Bedürfnis.“ 

Auf dem Bett in seiner moskauer Einzimmerwohnung liegt ein großer Stapel Fotos, ungeordnet. Chaldej greift sich das oberste Blatt. „Arbeiten, Rabotta!“

Jewgeni Chaldej 1941, Murmansk

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