Teil 5
Bei meinem nächsten Besuch, ein halbes Jahr später zeigte Chaldej mir ein neues Schubfach in seinem Karteischrank. Auf der Vorderseite stand in russischer Sprache „Ernst“, mein Name. In diesem Schubfach bewahrte er von nun an die gemeinsame Auswahl von Motiven, die in Ausstellungen und Büchern verwendet wurden.
Sofort kamen wir wieder ins Gespräch. „Wo haben Sie während des Krieges fotografiert?“
„Ich wurde überall hingeschickt. wegen meiner Schnelligkeit und Professionalität. Ich spürte, dass es notwendig war. Ich war ja auch Soldat. Ich war in Murmansk, am Schwarzen Meer, in Norowosirsk, bei den Truppen in Kertsch auf der Krim, später bei Sewastopol. Sewastopol wurde am 9. Mai 1944 befreit, ein Jahr vor dem Sieg. Aber wir wussten damals noch nicht, dass am 9. Mai 1945 der Sieg gefeiert werden sollte. Hier sind noch Fotos. Fragen Sie mich nach den Fotos, 1, 2, 3, bitteschön.“
Chaldej fotografierte bei allen militärischen Waffengattungen: Infanterie, Marine, bei der Luftwaffe und bei Panzerabteilungen.
Heinz Krimmer schreibt in seinem Essay „Kriegsfotografie im Zweiten Weltkrieg“:
„Die Arbeitsbedingungen der russischen Kriegsfotografen waren extrem hart und ein Spiegel der militärischen Verhältnisse. Sie waren schlechter verpflegt und ausgerüstet als die Fotografen der Alliierten. Filme waren oft Mangelware. Es gibt Informationen, dass die Filme sogar in Blechdosen entwickelt wurden. Ein Wunder, dass unter diesen Technischen Umständen so viel gelungen ist.“
(Zitat aus Buch „Von Moskau nach Berlin“, 1994 S. 9)
Chaldej hält bereits das nächste Foto in der Hand. Er ist mit dem Ausschnitt des Papierabzuges nicht zufrieden. Daher schneidet er mit einer großen Schere ein Stück am linken Rand ab.
„Alles gut? Ja? Also dieses Foto habe ich unter dem Einfluss des Films „Die Erde“ des Regisseurs Alexej Dovschenko gemacht. Dort zog ein Hirte mit seiner Kuh umher. Ich war damals 17 Jahre alt und wollte unbedingt so ein Foto. Mit meiner selbstgebastelten Kamera hat es ziemlich lange gedauert. Ich glaube, die Kühe sind danach vor Müdigkeit umgefallen.
Eines Tages nahm ich Anatali Panin, einen russischen Dokumentarfilmer, mit in das Haus von Chaldej.
Er betrat die kleine Wohnung. Von der Einrichtung überrascht und beindruckt, stellte er sich sofort mitten in den Raum, in dem man sich kaum bewegen konnte, wenn mehr als drei Personen sich aufhielten und sagte:
„Hier, genau hier sollte das Stativ stehen mit einer schwenkbaren Kamera, die sich ganz langsam, vielleicht 1-2 Stunden um 180 Grad einmal um die eigene Achse dreht. Zweites Requisit, ein Mikrofon. Chaldej kommentiert die Gegenstände in seiner eigenen Wohnung.
Damit hast du das ganze russische Geschichte der letzten 70 Jahre eingefangen.“
Die Einraumwohnung in der wir uns unterhalten, spiegelt die ganze Geschichte der Sowjetunion wieder.
Die Kamera wurde nie aufgestellt, es blieb bei der Idee.
Als Kind mit 11, 12, Jahren arbeitete Chaldej auf einem Eisenbahn Stellwerk und reinigte den Kessel von Lokomotiven. Seine Schulausbildung bestand in vier Klassen Grundschule. Schon sehr früh entdeckte er seine Liebe für die Fotografie.
„Immer wenn ich Zeitschriften wie „Ogonjok“, „Scheinwerfer“, „UdSSR im Aufbau“ durchgeblättert habe, hat mir der „zum Stillstand gebrachte Augenblick“ gefallen.“
Aus der Brille seiner Oma, so erzählt Chaldej, bastelte er mit ein wenig Zusatzmaterial eine Kamera, mit der man Aufnahmen machen konnte. .
„Die ersten Fotos habe ich mit einem selbstgebastelten Fotoapparat gemacht. Ich fotografierte die Kirche, die Straßen, alles unbewegliche Dinge, ich war weder ein Berufsfotograf, noch hatte ich eine gute Kamera. Ich war 12 Jahre alt.“
1933, mit 16 Jahren wurde seine Leidenschaft zum Beruf und er beginnt mit der Arbeit in einem Fotolabor. Seine erste professionelle Kamera wird eine russische Leica, eine FED, der Nachbau der deutschen Leica. Sie kostete 1200 Rubel. Damit konnte man auch ein paar Lederschuhe kaufen. Mit 19 Jahren übersiedelte er nach Moskau und arbeitete für die TASS. Er schickte Fotos an die Agentur und diese lud ihn zu einem Vorstellungsgespräch ein.
Foto Chaldej 1933

lang stillstehen. Von einem Helden der Arbeit konnte man das verlangen.

Sie hatten eine Lizenz bei Leica erworben und dieses Modell
entwickelt. Meine Großmutter hatte gesehen, wie ich mir selbst
einen Apparat aus Brillengläsern bastelte und schenkte mir 1200 Rubel. Damit kaufte ich mir diese Leica. Das Foto ist von einem Kollegen.
Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 brachte deutsche Waren ins Land, darunter auch Leicas. Mit einer deutschen Leica fotografierte Chaldej den ganzen Krieg, beginnend mit dem ersten Tag, 22. Juni 1941, als Kriegsberichterstatter der „Fotochronik“ der TASS, der sowjetischen Bild und Nachrichten Agentur. Der Krieg wurde sein Lebensthema. 1148 Tage ist er unterwegs und legt dabei, wie er einmal ausgerechnet hat,
rund 30 000 Kilometer zurück.
„Wissen Sie, ich dachte wie alle anderen auch. Da war der Feind, und der musste besiegt werden.“
Chaldej arbeitete als Fotograf und Militärberichterstatter. Daher trug er eine Uniform und erreichte den Rang eines Leutnants.
„Die russischen Fotografen erlebten zwangsläufig ständige Feindberührung und Allgegenwart des Todes. Sie lebten mit dem Trauma, dass der Krieg im eigenen Land stattfand und die Deutsche Wehrmacht mit der Strategie der „verbrannten Erde“ barbarische Zerstörungen anrichtete, unter dem vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden hatte. So kämpften sie alle mit dem Rücken zur Wand, vor die alleinige Alternative gestellt, entweder zu gewinnen oder vernichtet zu werden.“
Heinz Krimmer, aus „Von Moskau nach Berlin, 1994. S. 10