Kapitel 9
Inzwischen hatten Charlotte und ich das dritte Mal das gleiche Getränk bestellt, einen Peach skin Cocktail mit wenig Alkohol, der werktags zwischen 18 und 19 Uhr zum Happy Hour Preis von 3,50 Euro angeboten wird. Charlotte sagte die ganze Zeit nichts. Sie unterbrach meine homoerotische Versuchsphase nicht mit nebensächlichen Bemerkungen, sodass ich meine Geschichte in einem Durchgang erzählen konnte, was sehr angenehm war. Denn ich kann auch nicht immer ihre hohe, schrille Stimmer ertragen. Und wenn ich daran denke, sie täglich, von morgens bis abends hören zu müssen, wäre dies der zweite Grund, mich nie an Charlotte zu binden.
Der Geruch bei einem Partner sei äußerst wichtig, versichert mir selbst Charlotte immer wieder, womit sie natürlich Recht hat. Kombiniert sich dieser Geruch noch mit einer unangenehmen Stimme, sollte man den Versuch einer Bindung erst gar nicht starten, eine Erkenntnis, die ich ihr gegenüber allerdings nie äußern würde. Das ist und bleibt meine subjektive Meinung, dennoch denke ich, es müsste sich doch bei so unendlich vielen Kombinationsmöglichkeiten einer Paarbildung auch der passende Geruchspartner für Charlotte finden, dem auch noch die hohe Stimme angenehm ist. Charlotte zog am Strohhalm ihres Peach skin. Dann meinte sie, es fiele ihr schwer, meine Erfahrungen mit dem Schuhverkäufer zu glauben und fragte mich, ob ich sie an einigen Stellen ausgeschmückt hätte. Ich antwortete, alles sei genau so passiert.
Aber jetzt habe ich anderes im Kopf, als über die Stimme von Charlotte zu räsonieren. Ich bedanke mich für den gelungenen Espresso, und gehe noch einmal zur Wand, an der das Bild hing und starre auf die weiße Struktur. Mantem war so was von cool denke ich, etwas zu cool. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass dieser selbst ein krummes Ding gedreht hat, obwohl, nein, das traue ich ihm nicht zu, aus seiner eigenen Galerie ein so teures Bild klauen zu lassen. Gab es das schon einmal? Ich meine, wer hat denn etwas davon, wenn er solch ein Bild besitzt? Er kann es niemandem zeigen, bleibt nur der Versicherungsbetrug. Aber die Versicherungen haben gute Anwälte und die Kripo spielt auch eine Rolle, da bewegt sich Mantem auf dünnem Eis. Ohne fremde Hilfe? Allein kann er es nicht gemacht haben- Er brauchte einen oder mehrere Komplizen. Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Klar, es gibt Fälle von Kunstraub, die man auch nicht sofort verstehen kann, an den Diebstahl eines fünf Millionen teuren Renoirs vor einem halben Jahr aus einem Provinzmuseum in Belgien erinnere ich mich noch genau. Zwei Diebe spazierten einfach ins Museum, nahmen das Bild von der Wand und schnitten die Leinwand heraus. Ein „barbarischer Akt“ wie später in der Presse stand und ich kann dem nur zustimmen. Ein Kunstwerk hat eine Seele, es ist aus einem schöpferischen Akt entstanden und hat die Zeit überdauert. Abgesehen, dass mir viele zeitgenössische Bilder nicht gefallen- die sieben Streifen schon gar nicht- würde es mir jedoch nie in den Sinn kommen, auf diese rohe Art und Weise in den Besitz eines Kunstwerkes zu gelangen. Für Bilder wie die von Lukas Pürtzel interessiere ich mich einfach nicht, spiele hier nur mit, muss meine Kohle verdienen. Blind gemalte Bilder, aufgeblasen zu einem Event und die Leute strömen in die Galerie. Auf der Vernissage floss der Sekt, natürlich gesponsert und eingefädelt von Pürtzels Freundin und Agentin. Die Presse berichtete wohlwohlend bis überschwänglich, einige wichtige Zeitungen stehen noch aus, aber Mantem ist zuversichtlich. Er sieht nur die Verkaufszahlen, ein spezifisches Interesse an der Kunst ist bei ihm nicht festzustellen. Je mehr Rummel um den Künstler und seine Werke produziert wird, um so teurer werden die Werke. Von Kunst hat Mantem wenig Ahnung, für ihn ist Kunst eine Kapitalanlage und hier trifft er sich mit seinen besten Kunden. Aber ich möchte nicht weiter über die Bilanzen meines Galeristen nachdenken, eher kommt mir eine Begebenheit in den Sinn, die jetzt wieder plastisch in meiner Erinnerung auftaucht. Seltsam, wie das Gedächtnis funktioniert. Ich sehe mich auf der Straße stehen, in einem verwaschenen, blauen T-Shirt. Wir nahmen für die geplante Reise nur drei kleine Taschen mit, die leicht über die Schulter gehängt werden konnten. Ich trug zusätzlich den Militärschlafsack, zusammengerollt nicht größer als ein ausgewachsener Mops, in dem wir beide schlafen wollten, meine jüngere damals 19jährige Schwester und ich.
Die Reise sollte fünfzig Tage dauern, per Anhalter durch Europa, Deutschland, Schweiz, Italien, Frankreich, Spanien, Marokko und zurück.
In Venedig kamen wir bei einem Freund unter, der im Hafen deutschen Touristen Segelunterricht gab. Nach drei ruhigen Tagen ging es, auf unbekannten Straßen, weiter westwärts, Richtung Frankreich. Mit einer jungen hübschen und blonden Schwester ist es leichter, als mit einem jungen hübschen blonden Bruder, per Anhalter vorwärts zu kommen.
Der Süden Frankreichs ist ein Paradies, angefangen in der Provence bis hin zu den Pyrenäen. Es ist schon spät am Abend und wir machen uns bereits damit vertraut, eine Nacht zusammen im Schlafsack unter Bäumen zu verbringen, als an einem kleinen Dorfausgang in der Nähe von Nimes ein großer englischer Wagen, hält, und uns der Fahrer fragt, wohin wir wollen.
Wir antworten, dass es uns egal sei wohin, nur weg von dieser für Tramper schwierigen Stelle, denn wir warteten dort schon vier Stunden in glühender Hitze. Man bot an, uns zwanzig Kilometer mitzunehmen, dann müsse man in ein kleines Dorf, abseits der Hauptstraßen, aber man könne uns an einer guten Stelle absetzen, damit wir noch unser Tagesziel erreichen. Im Auto saß ein Ehepaar aus Süd-Afrika. Freunden aus London hatten ihnen ein Haus in einem winzigen Dorf mit nur vier Häusern zur Verfügung gestellt. Das alles erfuhren wir sehr schnell, als wir im geräumigen Auto saßen. Das südafrikanische Ehepaar war sehr amüsiert darüber, dass ein Bruder mit seiner Schwester durch Europa trampte. Diese Kombination lockerte Zunge und Stimmung auf der kurzen Fahrt durch reizvolle Täler und kleine Ortschaften.
Man lud uns sogar ein, in einem Cafè einen Pastis zu trinken, und als die zweite Runde kam, wurde es schon langsam dunkel. Wir fuhren noch einige Kilometer, bis wir die Stelle erreichten, an der wir aussteigen sollten.
„Meine Frau und ich laden Sie ein, bei uns zu übernachten, auf dem Dachboden, nicht bequem, aber für eine Nacht wird es reichen.“
Wir sagten sofort zu, bedankten uns, und folgten schweigend den Lichtstrahlen der beiden Scheinwerfer auf der holprigen Straße, die zum Dorf hinauf führte. Es war inzwischen stockdunkel. Das Haus war sehr groß. Unten befand sich ein einziger Raum, an dessen Wänden Bilder von Matisse und Picasso hingen, sogar einen Derain konnte ich erkennen.
Bevor ich fragen konnte, sagte der Fahrer,
„Alles Originale. Das Haus gehört Dora Maar, einer Freundin von Picasso.“
„Sie war doch eine Zeit lang die Geliebte von Picasso, sogar seine Frau, ich glaube in den Dreißiger Jahren. Es gibt mehrere Porträts von ihr“, antwortete ich.
„Das ist richtig. Ich zeige Ihnen jetzt die Dachkammer. Es ist nicht aufgeräumt, aber ich hoffe, Sie fühlen sich wohl.“
Seine Frau brachte frische Bettwäsche, zwei Liegen wurden gefunden, und da es sehr heiß war, legten wir uns nackt auf die Laken und schliefen sofort ein. Durch das Bellen eines Hundes wachte ich nach einer kurzen Zeit wieder auf. Die Hitze war unerträglich und meine Müdigkeit verflogen. Ich stand leise auf und schaute mich um. Die Dachkammer wurde als Abstellkammer benutzt. Überall lagen Bilder herum, Staffeleien, alte Möbel. Es sah wie in anderen Dachkammern aus, mit dem einen Unterschied, dass es sich bei den achtlos herumliegenden Bildern vorwiegend um Originale handelte. Ich stöberte in einem Stapel Ölbilder und wunderte mich über die Art und Weise, wie achtlos all diese Kunstwerke aufbewahrt waren. Ich entdeckte zwei Dufys, einen Braque, einen Vlaminck neben etlichen anderen Gemälden, deren Urheber ich nicht kannte. Einer der beiden Dufys hatte es mir sofort angetan und ich bemerkte an mir selbst, wie sich in meiner Phantasie der Wunsch verfestigte, dieses Bild zu besitzen. Ich versuchte diesen Gedanken zu verwischen, mit dem Effekt, dass ich mich noch mehr in die Vorstellung verstieg, einfach mit dem Dufybild aus der Tür zu spazieren. Mein schlechtes Gewissen beruhigte ich gleichzeitig, indem ich mir sagte, wer so achtlos mit solchen wertvollen Bildern umgeht, der muss bestraft werden. Die Bestrafung selbst sah ich als sehr gering an und damit auch mein Vergehen, da ich mir sagte, das Ehepaar wird es sicherlich nicht bemerken, und die sehr entfernt in Paris lebende Frau Maar auch nicht, da sie so mit all diesen Originalen umgeht, als ob sie kein Interesse an ihnen hat.
Ich spielte mit dem Gedanken, wie ich das etwa 50 mal70 cm große Dufy-Bild unbemerkt aus der Dachkammer bringen könnte. Weder hatte ich einen Mantel dabei noch eine bauchige Jacke, unter denen das Bild, das auf Pappe gemalt war und sich nicht einrollen ließ, verstecken konnte. Unsere drei kleinen Taschen eigneten sich nicht, jede war zu klein. Vielleicht sollte ich das Bild jetzt aus dem Haus schmuggeln, indem ich durch das Fenster über das Dach steige, und es irgendwo an der Straße unter einem Gebüsch deponiere. Doch diesen Gedanken verwarf ich sofort, da ich mich weder im Haus noch auf dem Gelände auskannte. Der Dufy starrte mich an, eine Meeres Landschaft, mit Uferpromenade und den typischen Farben, blau, rot, weiß. Das Bild gefiel mir sehr, es lag auf dem Boden und es war sicherlich 100 000 Euro wert.
Es gab jetzt nur eine Möglichkeit. Vor Antritt der Reise hatte ich mir ein neues Schweizer Messer besorgt. Ich klappte die längste Klinge aus dem Schaft, drehte das Bild auf die Rückseite, um dort den ersten Schnitt anzusetzen, da ich nicht in der Lage war, direkt auf das Motiv zu schauen, um es dann in vier gleiche Teile zu schneiden. Vier gleich große Stücke passten in eine meiner Taschen. Meine Schwester atmete leise und ruhig. In diesem Moment rollte sie sich auf die andere Seite, von mir weg. Die Klinge funkelte in meiner Hand. Doch dann drehte ich den Dufy wieder um, legte ihn an seinen ursprünglichen Platz, steckte das Messer in die Tasche und versuchte zu schlafen.
Am Morgen gab es ein reichhaltiges, englisches Frühstück. Dann fuhr uns der Fahrer noch bis an die nächste Landstraße. Beim Abschied sagte er:
„Ich sehe, Sie haben der großen Versuchung widerstanden. Die alte Dame in Paris hat ihre ganz
eigene Ordnung da oben. Ich hab’s auch nicht getan. Eine schöne Reise.“