vonErnst Volland 16.06.2024

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Kapitel 17

Vlavio sitzt immer noch in der Mundbar und liest in einer Zeitung. Ich entschuldige mich bei ihm und lade ihn zu einem weiteren Getränk ein. Dann schreibt er seine Handynummer auf und geht mit der Bemerkung „Blaise Vincent geht jetzt Cello spielen, dass kann er nämlich auch und für ein kleines Honorar spielt Blaise auch auf der Vernissage in einigen Tagen in der Galerie Mantem. Ich bin dabei. Aber wenn ich arbeiten in Bücherei ich nicht können, das ist klar.”

Der Kellner kommt an meinen Tisch. Ich bezahle alle Getränke, bleibe dann noch ein paar Minuten sitzen und blättere in einigen Zeitungen. Eine Kunstkritik lese ich von Anfang bis zum Ende durch, sie ist nicht besonders lang. Es ist eine Kritik über die Ausstellung eines Malers und bei der Durchsicht tausche ich den Namen des Malers um in Blaise Vincent. Die gleiche Kritik oder eine sehr ähnliche erhoffe und erwarte ich für meinen Franzosen.

Atemloses Staunen setzt bei dieser nahezu mythischen Genauigkeit, die die Messerschneide zwischen Figuration und Abstraktion trifft und für die „nur” Farbe auf die Leinwand gerotzt werden

musste, ein. Aber was heißt hier Farbe: Eigentlich geht es um Schwarz und Weiß. Mit Respekt und Selbstvertrauen verbindet Blaise Vincent die Dramatik eines Caravaggio mit der vermeintlichen Süßigkeit von Mangas. Großformate gleich Historiengemälde, Kleinformate, die groteske Popikonografien auslösen und gleichzeitig toppen. Freunde der gepflegten Drones verstehen: Der Sunn O))) unter den jungen Malern.”

Der kleine Artikel aus der TIZ gefällt mir in seiner Verquastheit so gut, dass ich den Text noch dreimal lese. Die wenigen Zeilen sind nicht zu entschlüsseln, ich verstehe nicht, was der Autor mit „mythischer Genauigkeit” oder „Messerschneide zwischen Figuration und Abstraktion” meint. Er hätte auch schreiben können von mythischer Figuration und gerotzter Messerschneide, die inhaltliche Aussage wäre genauso ungenau und vernebelt wie die Formulierung gerotzte Figuration und mythische Messerschneide. Insgesamt handelt es sich hier um einen Text zum Schmunzeln.

Die sprachliche Verschrobenheit wirkt unfreiwillig komisch und erscheint austauschbar. Vielleicht habe ich diesen Text vor einem Jahr in Zusammenhang einer völlig anderen Ausstellung schon einmal gesehen. Diese Formulierungen suggerieren mir, immer den gleichen oder einen sehr ähnlichen Text schon gelesen zu haben. Leicht modifizierte Wiederholungen würde ich dem einen oder anderen Rezensenten zutrauen, aber nicht, weil er es darauf anlegt hat, vielmehr könnte ich mir den Eindruck einer Wiederholung eher durch Denkfaulheit und Nachlässigkeit vorstellen. Oder lacht sich ein Kritiker ins Fäustchen, wenn er aus seinem Zettelkasten standardisierte Texte nur mit neuen Namen versieht und dann veröffentlicht? Fängt man einmal an, darüber nachzudenken, kommt man ins Grübeln. Wer rezensiert die Rezensenten in den Redaktionen? Ich blättere einige Seiten weiter und vertiefe mich in die Tabelle der Bundesliga, eine spannende Angelegenheit, da allmählich klar zu sehen ist, wer wieder deutscher Meister wird. Aber sicher ist nichts, es stehen in dieser Saison noch je drei Spielbegegnungen aus.

Der Kellner kommt an meinen Tisch und fragt mich mit einem Lächeln, ob ich noch einen Espresso trinken möchte, was ich ablehne. Nachdem er mich drauf aufmerksam gemacht hat, dass er mir einen gratis spendiert, lehne ich nicht ab, trinke den Espresso mit einem Schluck aus und denke in der Sekunde, in der die heiße und süße Kaffeepressung die Oberfläche meiner Zunge berührt, wieder an Carol. Der Blick aus dem Fenster zeigt, die Straße ist leer.

In der Galerie hat Charlotte inzwischen die Blaise Bilder aus den Noppenfolien genommen und vorsichtig in einer Reihe an die Wand gestellt. Eine Hand unter den Ellenbogen gestützt und mit der anderen Hand das Kinn umfassend, steht sie, den Kopf hin und her bewegend, nachdenklich vor den Werken.

Der ist doch ganz gut, also schlecht ist er nicht, aber so gut ist er auch wieder nicht oder?”

Ich find ihn gut, auch wenn er nicht so gut ist. Das ist doch Geschmackssache, Charlotte.”

Wir stehen vor den Bildern und bemerken nicht, die Ankunft von Mantem, obwohl dieser, sicherlich aufgrund seiner Körperfülle, heute besonders schwer atmet.

Hallo zusammen, euch kann man ja wieder ein Bild ganz einfach unter dem Arsch wegziehen, sorry Charlotte, oder habt ihr mich absichtlich nicht bemerkt. Ist ja auch egal. Ach, ja, unser neuer Künstler. Sieht doch gut aus, schöne Farben, mittelgroße Formate, also verkäuflich. Ich glaube, das wird was. Kommt er zur Eröffnung? Fallen da Kosten an, die nicht sein müssen? Preisliste schon fertig? Wir wollen verkaufen.”

Ohne zu antworten, positioniere ich die Bilder in einer Reihenfolge und stelle sie an die Wand für die Hängung. Mantem schaut einmal in die Runde, tauscht drei Bilder untereinander aus und segnet die Reihenfolge ab. Vorsichtig erkläre ich Mantem, dass einige Bilder unverkäuflich sind, also aus Privatbesitz und auf Wunsch des Künstlers sogar zwei Bilder aus französischen Museen ausgeliehen sind, die Leihverträge sind in Arbeit und die entsprechenden Besitzverhältnisse notiert. Charlotte schreibt und fertigt die Legenden an.

Mantem schaut erstaunt. Er ist entzückt, wie er selbst sagt, dass der junge Mann schon Museumsqualität besitzt.

Was? Museum der Stadt Paris, das klingt doch toll, das hat doch was, da könnte ich jetzt glatt hinfahren, da krieg ich richtig Lust drauf, Sakre Kör, Schamselisee oder wie das heißt, also der Kudamm der Pariser, einen Pernod trinken. Frau Charlotte, wenn der Franzose brummt, machen wir ‘nen Betriebsausflug, nur wir zwei, ein verlängertes Wochenende, mit Pigalle und so und allem Schnickschnack.”

Ich nutze die gute Laune von Mantem und frage nach einer Erhöhung meines Stundenlohnes, nehme diese Frage aber sofort zurück und weise sie als Scherz aus, als ich die zusammengezogenen Augenbrauen und die dazugehörigen Stirnfalten sehe, die sich noch während meiner Frage auf dem runden Gesicht von Mantem abzeichnen. Der Mund verrät zusätzlich eine leichte mentale Säuernis, die Lippen bilden einen ausgefransten Kreis, als ob sie gerade eine grüne Zitrone verschluckt hätten.

Die Augenbrauen bei Mantem nehmen ihre normale Position wieder ein und die zusammengepressten Lippen zeigen ihr pralles Fleisch. Ich deute Mantem die Möglichkeit eines speziellen künstlerischen Beitrages auf der Vernissage an. Der Künstler hat die Absicht, bei der Vernissage dabei zu sein und er hat den Wunsch, Cello zu spielen, ein Instrument, das er beherrscht. Mantems einzige Reaktion ist seine erstaunte Frage, ob man allein mit einem Cello die Leute unterhalten kann, das sei doch etwas eintönig, aber er habe nichts dagegen.

Am Morgen der Eröffnung scheint die Sonne. Die Bilder hängen an der Wand, sorgfältig beschriftet, die Preisliste liegt überall aus. In zwei Vasen stecken frische Blumen, auf einem Tisch mit weißer Decke stehen Weine, Wasser und Säfte für den freien Ausschank. Charlotte hatte deutschen Wein von der Mosel und französischen aus dem Languedoc besorgt, eine Weingegend, in der sie als Austauschschülerin war, wie sie mir beim Ikebanisieren der Blumen erzählte, und sich dort unsterblich in einen dunkelhäutigen Franzosen einer aus Algerien eingewanderten Familie verliebt, dem sie zwei Jahre Liebesbriefe in einfacher französischer Sprache schrieb.

Stell dir vor, er sagte nicht j’taime, er sagte immer jaim tu, also, du lieben oder so und ich habe mich sofort in dieses jaim tu verliebt.”

Ja, und, wie sind die Franzosen so.”

Charlotte antwortet nicht auf diese Frage, vielleicht hat sie eine Anzüglichkeit herausgehört, eine plumpe sexuelle Anspielung, so wie Männer manchmal untereinander sprechen und direkt und ohne jede Sensibilität auf das Thema Nr. 1 kommen. Dabei hatte ich eine unverfängliche Formulierung gewählt, jedoch gehofft, sie würde aus dem erotischen Bettkästchen plaudern. Die meisten Frauen unterhalten sich nie, ob mit Männern oder Frauen, aus dem Stand über sexuelle Praktiken, bevorzugen Umschreibungen und betonen mehr ihre emotionale Gefühlslage. Das hätte ich eigentlich wissen müssen.

Ich habe mich entschieden, Vlavio Cello spielen zu lassen und ihm eingeschärft, möglichst nicht über die Bilder und seine Maltechnik zu sprechen, sondern völlig unverfängliche Diskussionen einzugehen. Das Spiel auf dem Cello ist für die Kommunikation ein geeignetes Ablenkungsmanöver und es war abgemacht, dass Vlavio nach seinem kleinen Auftritt die Galerie verlässt, um im Nachtleben Berlins unterzutauchen. Rar machen ist immer gut, erklärte ich ihm und er nickte. Dabei drückte ich ihm ein Buch in die Hand mit dem Titel „Die Kunst des 20. Jahrhunderts” mit dem Augen zwinkerndem Kommentar. „Damit du weißt, in welcher Preisklasse du dich bewegst.” Er kannte zwar Picasso, was ich schon wusste, weil er mir das im Lido schon verraten hatte, aber drei Testfragen konnte er nicht beantworten. Was ist Assemblage? Wann ist Picasso gestorben und wie hieß der Maler Ernst mit Vornamen? Fehlanzeige auf der ganzen Linie, die mich jedoch nicht im geringsten nervös machte. Locker bleiben, dachte ich und sagte es auch zu Vlavio, „wird schon schiefgehen, immer schön lächeln und am Glas nippen. Nobody is perfect. Und, in einem Fake ist alles möglich.”

Bei näherer Betrachtung ist die Ausgangsposition klar. Mit Jack bin ich die verschiedenen Optionen durchgegangen. Das Experiment, einen nahezu unbekannten Künstler aus dem Stand ins Geschäft zu bringen, ist vorbereitet, angeschoben und jetzt gilt es, das Optimum herauszuholen.

Schon um 18 Uhr treffen die ersten Gäste ein. Eine Stunde vor Beginn drehen sie eine Runde in der Galerie, kommentieren die Bilder und verschwinden wieder. Vlavio erscheint mit seinem Instrument, aber auch mit einer verbundenen Hand. Er kann nicht spielen, in keinem Fall. Im Kellerarchiv der Bücherei, in der er arbeitet, ist an diesem Morgen ein Regal mit Büchern umgekippt und hat seine rechte Hand erwischt, die stark blutete. Es ist zum Glück nichts gebrochen, aber das Cello kann nicht zum Einsatz kommen.

Der nicht stattfindende aber geplante Celloauftritt von Vlavio ist die erste unvorhergesehene Situation. Ich bin plötzlich unsicher, spreche Vlavio mit Vlavio an. Mantem steht vor mir, ich zucke zusammen. Sein neuer weißer Anzug ist eine Kleidergröße zu klein, ich bin gereizt und habe Lust, ihn mit einer ironischen Bemerkung darauf anzusprechen, besinne mich und stelle ihm Blaise Vincent vor. Mantem spricht Blaise Vincent direkt mit einigen wenigen französischen Wörtern an, dann wechselt er ins Englische. Blaise antwortet nichts. Hat er nicht mitbekommen, dass es sich um den Besitzer der Galerie handelt?

We are the Champions”, sagt Mantem, mehr zu sich selbst und widmet sich einer elegant angezogenen Frau, die er flüchtig auf die Backen küsst. Inzwischen hat sich die Galerie mit hunderten von Gästen gefüllt. Charlotte schenkt mit einer schwarzen Studentin den Wein aus. Jack hilft beim Öffnen der Flaschen und zieht die Korken aus den Hälsen.

Nach zwanzig Minuten bittet Mantem um Ruhe und spricht drei Sätze zur Begrüßung. Er wünscht großes Vergnügen mit den Bildern und stellt mit einer Handbewegung Blaise Vincent dem Publikum vor. Blaise verbeugt sich wie ein Musiker nach einem Soloauftritt. Ich bleibe immer in seiner Nähe.

Das ist ja ganz schön anstrengend, hätte ich das vorher gewusst, dann…” Wir stehen am Getränketisch und ich unterbreche Blaise, indem ich sein Glas mit meinem anstoße, seinen Körper dabei zur Seite ziehe und ihm zu verstehen gebe, dass er mich jetzt nicht so offen ansprechen soll. Er könne mit mir sprechen, später, unter vier Augen, aber bitte nicht jetzt vor allen Leuten.

Blaise geht zu seinem Cello, das unter meinem Schreibtisch verborgen ist, zieht es hervor und verabschiedet sich von mir.

Orevoir”

A demain?”

Petetre.”

Ich bin nicht sicher, ob ich Blaise jemals wieder sehe.

Neue angekommene Besucher begrüßen sich mit Umarmungen und Wangenreiben, manche drücken die überraschende Begegnung durch einen spitzen Schrei aus, der in der gedämpften Stimmung von den Umstehenden wie selbstverständlich registriert wird. Die Atmosphäre ist heiter und ausgelassen. Überall bilden sich kleine Gesprächsgruppen, kaum einer beachtet die an der Wand hängenden Bilder. Der Abgang von Blaise ist von den Gästen nicht bemerkt worden, niemand scheint ihn zu vermissen. Nicht einmal Mantem fragt nach Blaise. Er unterhält sich mit einer eleganten grauhaarigen Frau, als ich ihn in der Menschenmenge entdecke.

Noch nie sind so viele Besucher zu einer Eröffnung gekommen, mein Lieber, und es ist auch schon etwas verkauft. Ich glaube, das wird was.”

Seine Sätze sind im Stimmengewirr um uns herum kaum zu verstehen. Mantem beugt sich zu mir herüber. Er riecht nach einem guten Parfum, was mich verwundert, da er in den letzten Tage auch nach anderen Düften gerochen hatte, unter anderem einmal nach frischem Knoblauch, deren abgepellte Zehen er manchmal am Abend in der Galerie in den Mund schiebt und dabei auf ihre heilende und stimulierende Wirkung hinweist, wobei er nicht verrät, in welche Richtung die stimulierende Wirkung geht. Mir gegenüber ist er in diesem Zusammenhang schon einmal deutlicher geworden. Nach dem Genuss von drei Gläsern Brandy und einem gut für ihn verlaufenden Tag schwörte er, drei Finger der Hand hebend, die Knoblauchzehen machen ihn zu einem „Hengst im Bett”. Ich reagierte nicht auf diesen Hinweis. Mantem zog seine Hand wieder zurück und schenkte sich einen weiteren Brandy in sein dickbauchiges Glas. Dabei stellte ich mir die entsprechende Stute vor, die den Hengst im Bett empfangen darf.

Natürlich bin ich sehr neugierig, welches Werk von Blaise einen Käufer gefunden haben könnte, halte mich jedoch mit meiner Neugierde zurück und frage nur en passant nach den Verkäufen. Mantem hatte etwas übertrieben. Bis jetzt ist noch kein Werk verkauft, jedoch auf drei Arbeiten besteht eine Option.

Den Rest macht dann die „Zeitung”, davon gehe ich aus”, meint Mantem, der heute der „Zeitung” bereits ein Interview gegeben hat und dem versichert wurde, dass der Beitrag morgen veröffentlicht wird.

Frau von Alvensleben, mit der ich vorhin gesprochen habe, entre nous, sie ist sehr an einem Ankauf interessiert. Sie mag die Franzosen, per se und die Preise seien doch noch sehr akzeptabel, verriet sie mir, und da sie nach dem Gießkannenprinzip bei jungen Künstlern kauft, findet ein blindes Huhn auch mal ein Korn. Das bleibt unter uns, aber sie ist ganz scharf auf den bunten gallischen Hahn. Der ist so gut wie weg, sie hat ihn reservieren lassen. Ich habe ihr zehn Prozent Rabatt gegeben, da hat sie gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd. Schotter ohne Ende hat die Madame und geizt hier um ein paar Euro, das soll einer verstehen. Also, aufgemerkt, das Bild kostet für sie nur noch achttausend Euro.”

Mantem wird von einer Frau umarmt und von mir weggezogen. Ich schlage mich durch bis zum Tisch, hinter dem Jack und Charlotte stehen. Beiden sieht man ihre gute Laune sofort an, sie sind frisch verliebt.

Ah, da bist du ja. Lässt du dich auch einmal blicken? Wir schuften hier, und du spazierst in der Gegend herum. Wie läuft es denn, wann spielt Blaise?”

Charlotte und Jack sprechen im Duett, abwechselnd, aber mit großer Harmonie und gegenseitiger Rücksicht.

Wollt ihr wirklich eine Antwort? Blaise ist verschwunden. Er spielt nicht und ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt noch einmal auftaucht. Sensibler Junge, das Ambiente hat ihm plötzlich nicht mehr gepasst.”

Jack steckt die Korkenzieherspitze mitten in den Mittelpunkt des Korkens, dreht die Flasche mit einer ruckartigen Bewegung hin und her und innerhalb von Sekunden treibt sich der Korken wie von allein aus der Flasche. Bei jedem neuen Öffnen einer Flasche schenkt Charlotte keinen neuen Wein aus, sondern blickt still fasziniert auf Jacks Hände und lächelt. Dann nimmt sie Jack behutsam die Flasche aus der Hand und bedient die Gäste mit einem Riesling von der Mosel, aus dem Ort Winningen. Es ist der Geburtsort von Mantem. Er bekommt die Flasche direkt von einem Winzer zu Großhandelspreisen von 2 Euro 50 je Flasche. Mir fällt beim Anblick des verliebten Paares hinter dem Tisch dieser Preis wieder ein, den Mantem mir einmal genannt hatte. Gleichzeitig sprach er kurz über seine Heimatstadt, die er schon früh verlassen hatte, um eine Lehre als Versicherungskaufmann in Frankfurt zu beginnen.

Ich schenke mir selbst ein Glas Wein ein und blicke Charlotte in die Augen. Sie scheinen größer geworden zu sein, jedenfalls sehe ich keine Müdigkeit in ihnen, wie manchmal, wenn der Tag dunkel wird und Charlotte sich vor einem einsamen Abend fürchtet. Charlotte scheint in den letzten Tagen auch jünger geworden zu sein. Die Mundwinkel zeigen nach oben, sie haben sich von der horizontalen Stellung jeweils nach außen hin gekrümmt, wie bei einem Clownsgesicht und ich bin mir nicht sicher, ob sie in dieser Stellung bleiben. Charlotte lacht und prostet mir zu.

Inzwischen haben viele Besucher die Galerie verlassen. Charlotte lehnt sich entspannt zurück, streckt einen Arm gerade aus in die Richtung von Jack, der das Glas aus ihrer Hand nimmt und in einem Zug leert.

Jetzt ist kein guter Moment, um mit Jack über Blaise zu sprechen. Ich überlege, wie ich die beiden separieren kann, um ein erstes Resumee der Fakeaktion zu ziehen. Aber Jack denkt nicht daran, sich mit mir allein zu unterhalten. Er rückt keinen Millimeter weg von Charlotte und wird auch den Rest des Abends mit ihr verbringen. Mantem kommt an unseren Tisch. Charlotte gießt ihm ohne zu fragen ein Glas Bier ein, das Mantem zwischen seine fleischigen Finger klemmt, jedoch nicht sofort trinkt.

Darf ich meine lieben Mitarbeiter zu einem kleinen Dinner im Entrecote einladen? Ich spendiere ein 1997 Château Latour, Pauillac, Premier Cru. Das war ein wunderbarer Abend. Wo ist denn unser Franzose, Charlotte, haben Sie eine Ahnung?”

Der frühe Abgang von Blaise überrascht Mantem nicht. Er kommentiert den Vorgang mit „einer gewissen Eigenwilligkeit, die mir gefällt und aus dem wird noch was ganz Großes.”

Mir wird etwas schwindelig, nicht durch den Preis des 1997 Château Latour, der über dreihundert Euro kostet. Es ist eher die Anspannung, die der Fake entfacht hat. Auf der einen Seite besteht die Gefahr, dass der Fake durch einen Zufall aufgedeckt wird und zum anderen, lasse ich mich konzeptionell treiben und hoffe, dass die Sache gut über die Bühne geht. Mangelnde Professionalität kann ich mir selbst nicht vorwerfen, da ich nicht hundertprozentig genau sagen kann, wie ein Fake auszuführen ist. Ich bin gespannt auf die Reaktion der Presse. Davon werden die nächsten Schritte abhängen.

Jack löst sich aus der Berührung mit Charlotte und kommt mir entgegen.

Ja, es läuft gut mit ihr, sehr gut, lass uns morgen unter vier Augen reden, du weißt schon oder ist alles vorbei, wegen Vlavio?”

Von mir bekommt Jack keine direkte Antwort. Ich halte einen Zeigefinger auf meine Lippen und nicke.

Das Entrecote ist so voll, dass die Gruppe um Mantem nicht gemeinsam an einem reservierten Tisch sitzen kann. Charlotte sitzt neben Mantem und anderen der Galerie nahe stehenden Personen. Jack und ich stehen am Tisch, für uns ist kein Stuhl frei, Charlotte möchte wieder aufstehen, wird jedoch mit einem festen Griff am Arm von Mantem daran gehindert.

Bis das geklärt ist, lass uns vor die Tür gehen und eine drehen”, schlägt Jack vor. Wir schieben uns durch neue ankommende Gäste. Das Restaurant hat erst vor einigen Wochen eröffnet, und es wurde sofort ein Renner. Ein leichter Regen hat die draußen sitzenden Gäste ins Innere des Lokals getrieben. An die Hauswand gelehnt, ziehen wir an unseren selbst gedrehten Zigaretten.

Charlotte beschäftigt mich ganz schön. Das ist gut so. Du musst mich nicht fragen. Ich bleibe an der Blaise Sache dran, obwohl es ja deine Erfindung ist.”

Jack hebt den Kopf etwas an und bläst den Rauch in die Nacht. Der Rauch treibt in kleinen Ringen von ihm weg. Ringe Rauchen habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich versuche eigene Ringe hinterher zu schicken. Es gelingt mir kein einziger weißer Kringel. Der Rauch verschwindet

im diffusen Licht zwischen der künstlicher Beleuchtung der Scheiben des Restaurants und den dunklen Partien der Nacht.

Wird schon schief gehen. Ich weiß noch nicht so richtig, wohin die Reise geht. Angebissen wurde schon und Mantem ist voll dabei.”

Darf ich dich etwas fragen, ganz sachlich.”

Was ist denn los, natürlich, du kannst alles fragen.”

Hast du denn gar keine Skrupel, ich meine auch dir selbst gegenüber? Aber vor allem mit Mantem und seinen Kunden. Du selbst wirst nie wieder ein Bein an Deck bekommen, wenn die Sache veröffentlicht wird oder sonst irgendwie heraus kommt. Und Mantem wird es mehr als peinlich sein.”

Jack, vertrau mir. Wir müssen jetzt wieder rein. Das ist eine Kunstaktion und die darf alles, wie die Satire, die darf auch alles. Das wusste schon Tucholsky, und das weißt du auch. Wie heißen die vier Pseudonyme für Tucholsky. Ich kenne nur zwei, er hatte aber vier.”

Wir gehen rein und ich sage sie dir: Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, Peter Panter und Theobald Tiger.”

Und ich habe bisher nur ein Pseudonym, wie du weißt, Blaise Vincent, und der soll lange leben.

Bitte keine Selbstzweifel, da müssen wir jetzt durch.”

In das Restaurant gelangt man durch einen kleinen Zwischenraum. Dort steht Charlotte. Es sieht so aus, als ob sie gerade diesen Raum betreten hat. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob sie dort schon eine Weile steht und auf die Rückkehr von Jack gewartet hat. Auch bin ich mir nicht sicher, ob Jack diese Form der Observierung lästig findet. Sicherlich ist er noch so verliebt, dass er den Beobachtungsstatus nicht wahr nimmt. In diesem Augenblick wünsche ich mir, Carol steht anstelle von Charlotte im Zwischenraum und schaut nach mir. Vielleicht stand sie während unserer Beziehung öfter in anderen Zwischenräumen und hat nach mir gesucht, denke ich. Mir ist es nur nie aufgefallen.

Auf dem Weg ins Lido, das die Öffnungszeiten morgens geändert hat, man kann jetzt schon um acht Uhr frühstücken, kaufe ich die „Zeitung“. Sie berichtet im Feuilleton ausführlich mit einer halben Seite über die Ausstellung. Neben dem Artikel ist ein Foto mit Mantem abgebildet, der vor einem Bild von Blaise Vincent posiert. Ich blicke auf das Foto und auf den Text und kann es nicht glauben, aber ich halte wirklich eine physische Zeitung, die raschelt und knistert, in den Händen. Auf Seite neun, im Feuilletonteil, auf der zweiten Seite, sehe ich Mantem, mit abgeschnittenen Beinen, auf ein von Blaise Vincent gemaltes Bild blickend.

Im Stehen überfliege ich den Text. Er ist in der Tendenz sehr positiv. Der Abdruck gibt mir in diesem Moment das sichere Gefühl, der Fake scheint zu funktionieren. Er entwickelt eine eigene Dynamik.

Die „Zeitung” schreibt unter anderem:

Blaise Vincent, frisch und französisch.

Ist es ein Vorteil Franzose zu sein? Blaise Vincent ist ein französischer Künstler, der die lange französische Tradition künstlerischer Avantgarde fortsetzten möchte. Er ist auf einem guten Weg. Mit einer soliden Ausbildung an verschiedenen internationalen Kunsthochschulen und einem Studium in Paris wagt Blaise Vincent jetzt den Schritt nach Berlin. Blaise Vincent hat sich viel vorgenommen. Er wird vorläufig für ein Jahr in Berlin wohnen und arbeiten. Die Ausstellung in der Galerie Mantem präsentiert neun großformatige Bilder aus den beiden letzten Jahren. Sie zeigen eine eigenwillige farbintensive Handschrift. Erst fünfundzwanzig Jahre alt, erstaunt der wilde Farbgestus des Künstlers. Die Farbe zuckt, schlängelt und changiert intensiv über die Leinwände. Noch ist eine gewisse Unruhe im Werk des Künstlers zu spüren, die jedoch als ein Ausdruck der Produktivität gesehen werden muss. Bei näherer Betrachtung sind auch Anklänge und Anleihen bei Picasso und Matisse zu spüren, sie treten im Gesamteindruck doch wieder zurück.

Blaise Vincent hielt sich im letzten Jahr für einige Monate in Berlin auf. Aus dieser Arbeitsphase hat der Galerist Peter Mantem ein Werk des Künstlers separat in seine Galerie gehängt. Es unterscheidet sich in seiner Farbgebung deutlich von den in Frankreich entstandenen Bildern und reflektiert das Lebensgefühl eines Franzosen in Berlin. Die Farben sind sehr zurück genommen aufgetragen worden, und statt der sonst dominierenden Gelb und Rot-Töne, setzt er mehr auf Grau und Blau. „La duce nuit a Kreuzberg”, so ist der Titel des 2,50 m x 130 m großen Bildes, besitzt Museumsqualität.”

Ich starre auf das Wort „Museumsqualität” und formuliere dann mit meinen Lippen langsam jeden einzelnen Buchstaben des Wortes M u s e u m s q u a l i t ä t. Das Wort hat sicherlich Mantem mehrmals während seines Gesprächs mit dem Kritiker benutzt.

Neben mir sitzt ein Hund im erdigen Vorhof eines Baumes und drückt mit gequälten Augen einen Haufen Scheisse aus dem After. Seine Leine führt zu einem grauhaarigen Mann, den ich mir genau anschaue. Er ist etwa 1,65 groß und er trägt ein quergestreiftes Polohemd, das gut zu seiner ockerfarbenen gebügelten Hose passt. Auf seiner Nase ruht eine verspiegelte Sonnenbrille, ein Modell aus den siebziger Jahren. Sein Mund bewegt sich langsam, ein unsichtbarer Kaugummi rutscht von einer Ecke des Mundes in die andere.

Museumsqualität”, sage ich zu dem Mann, der seinen Hund mit einem Ruck aus dem Kreis des Baumes auf das Pflaster des Bürgersteiges zieht. „Das hat Museumsqualität”.

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