vonsaveourseeds 08.06.2010

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Der neue Mann mit den Strähnchen: EU Agrarkommissar Dacian Ciolos

Bis zum 11. Juni nimmt der neue rumänische Agarkommissar der EU, Dacian Ciolos, Vorschläge der Bürgerinnen und Bürgern Europas zur Reform der gemeinsamen Agrarpolitik der EU auf seiner Webseite entgegen. Wenn Ihnen die Bekämpfung von Hunger, Klimawandel, explodierenden Gesundheitskosten und der „Monsantoisierung“ unserer Ernährung am Herzen liegen, sollten Sie dem Kommissar vielleicht schreiben.

Die Reform der 50 Milliarden Euro schweren gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union wirft ihre Schatten voraus. Im Herbst soll ein Entwurf, im Frühjahr ein Finanzplan vorliegen. Dann startet der Verhandlungspoker um die neue Landwirtschafts-Ordnung der EU, die für den Rest des Jahrzehnts bestimmt was sich für Landwirte von Schottland bis Griechenland wie anzubauen lohnt, wieviel Kunstdünger und Pestizide, wieviel Bio und wieviel Agrarsprit dabei im Spiel sein wird. Fleisch- und Milchpreise, Exportsubventionen und der Import von Sojabohnen aus ehemaligem Regenwald, die landwirtschaftlichen CO2 Emissionen und die Perspektiven der Spekulation mit Rohstoff- und Bodenpreisen werden von diesem Reformprojekt (und der Frage ob es sich dabei tatsächlich um eine Reform handeln wird) bestimmt.

Erstmals wird dieses traditionelle Kernstück europäischer Politik aber nicht in den Hinterzimmern der Agrarminister und ihrer Lobbyisten unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgehandelt, sondern bedarf nach den Regeln der neuen „EU-Verfassung“

(Lissabon-Vertrag) der Zustimmung des Europäischen Parlamentes. Das bietet die Chance, der Meinung der großen Mehrheit der EU-Bürgerinnen und Bürger, die nicht unmittelbar in der Landwirtschaft und Ernährungsbranche tätig sind, ein anderes Gewicht zu geben.

Unsere Steuergelder für diesen Wahnsinn? Foto: D. Gießelmann

Diese Chance sollten wir nutzen. Denn es geht entgegen einem weitverbreiteten Aberglauben dabei nicht nur um die Existenzsicherung einer immer kleineren Zahl von Bauern, die sich immer grösseren Agrarindustrieunternehmen gegenüber sehen. Es geht auch um Klimawandel, Hunger, Agrarsprit, Lebensentwürfe auf dem Lande, die Qualität unserer Lebensmittel. Es geht auch um die Frage, ob mit Hilfe unserer Steuergelder tatsächlich Millionen von Jugendlichen sehenden Auges in krankhaftes Übergewicht, Diabetes, Gefäßerkrankungen und frühes Siechtum getrieben werden sollten. Ist die Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirtschaft tatsächlich nur als Zulieferer von internationalen Junkfood-Konzernen und Fleischfabriken, Discountern und Convenience-Verarbeitern denkbar? Wird sie tatsächlich gefährdet, wenn keine öffentlichen Mittel mehr für Tierquälerei eingesetzt werden? Ist Billig-Sprit wirklich das richtige Signal an landwirtschaftliche Unternehmen? Müssen Südzucker und Nordmilch tatsächlich die grössten Empfänger von EU-Subventionen sein? Brauchen Hähnchen-Mäster und Eierfabriken wirklich unsere Millionen?

Ciolos, der nicht zuletzt daran gemessen werden wird, welche Perspektive er den Millionen von Kleinbauern in seinem Heimatland Rumänien, in Polen, Bulgarien und den anderen „neuen Bundesländern“ der EU bietet, die bisher vom europäischen Subventionskuchen nur Krümel abbekommen, warnte in seiner Auftaktrede im Europäischen Parlament davor, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen und forderte einigermassen dringlich eine breite gesellschaftliche Debatte „zu einer gemeinsamen Vision für die Zukunft dieses europäischen Politikbereichs … eine Vision für die gesamte Zivilgesellschaft und alle Bürger der EU.“ „Und dann“, so Ciolos, „werden wir uns alle im selben Wald wiederfinden, in dem Wald, wie wir ihn gewollt und gestaltet haben.“

Wie sehen Sie den Fall? Ihr Beitrag an Herrn Ciolos könnte ein Auftakt sein zu einer Diskussion, an deren Ende vielleicht neue Bündnisse zwischen Bauern und Verbrauchern stehen. Darum bemüht sich übrigens (schleichwerb) auch das Projekt weltagrarbericht.de. Ihre Ansichten mögen dem Deutschen Bauernverband und der Agrarindustrie samt ihren Lobbyapparaten vielleicht nicht ins Konzept passen und auch nicht den Technologie- Strategen einer „wissensbasierten Bioökonomie“, in deren Augen unsere Felder und Wälder, unser Essen und unser Sprit summa

Enstation Bioökonomie? Foto: BASF
Endstation Bioökonomie? Foto: BASF

summarum nur Biomasse zur industriellen Weiterverarbeitung sind. Macht nix. Die Macht geht, so haben wir es jedenfalls gelernt, schließlich von Volke aus.

P.S.

Dass die elektronischen Bürgerbeteiligung  eine Spielart der repressiven Toleranz (Arbeitstitel „Ignoranz 2.0“) sein kann, wollen wir auf keinen Fall bestreiten. Das Bereitstellen von Web-Formularen unter dem Vorwand der Bürgerbeteiligung muß im Zeitalter demokratischer Beliebigkeit nicht unbedingt ein ernst zu nehmender Versuch sein, mehr Demokratie zu wagen. Immerhin ist die EU-Kommission aber bisher noch nicht in den Verdacht geraten, die Ansichten ihrer Bürger an google (als „opinion view“ etwa) oder an die fundraising Abteilungen von Parteien, AVAAZ-Konzernen oder anderen Polit-Entertainment-Haie zu verkaufen. In diesem Sinne ist Ihre Teilnahme an der Debatte wenigstens garantiert unschädlich.

P.P.S. Ihre Meinung muss laut web-formular in jeweils 1000 Zeichen Antwort auf folgende Fragen geben:

... oder doch lieber Knollenvielfalt? Foto: Haerlin

1.   Warum brauchen wir eine Gemeinsame Europäische Agrarpolitik (GAP)? 2.  Was erwarten Bürgerinnen und Bürger von der Landwirtschaft? 3.  Warum muss die Gemeinsame Agrarpolitik reformiert werden? 4.  Welches Instrumentarium benötigen wir in Zukunft für die Umsetzung der Gemeinsamen Agrarpolitik?

Sei’s drum, wenn es der Wahrheitsfindung dient. Nach unserer Erfahrung ist es bequemer, die Antworten schon formuliert zu haben und sie dann in die jeweiligen Felder reinzukopieren.

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https://blogs.taz.de/warum_sie_noch_heute_an_eu_agrarkommissar_ciolos_schreiben_sollten/

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