vonmaggie 06.09.2024

Widerhaken

Nicht mehr als ein Versuch, meinen Platz zu finden zwischen all den Dingen, die so passieren in unserer wundervollen Welt.

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Nach den Ergebnissen der Europawahl ist die Frage aktueller denn je – wie macht man eine Gesellschaft gegen die AfD immun? Wie schafft man es, trotz Unzufriedenheit und nebligen Zukunftsaussichten nicht den Kopf zu verlieren? Trotz allem differenziert zu betrachten und respektvoll zu diskutieren? Es gibt wenig gesellschaftlich Relevanteres aktuell – es geht um nicht weniger als die Zukunft unserer Demokratie.

Auf dem taz lab 2024 gab es ein Diskussionscafé, dass sich mit den statistischen Hintergründen von Gemeinden mit hoher AfD-Wahlquote auseinandersetzte. Bei der Recherche handelt es sich um ein Gemeinschaftsprojekt der taz und dem Institut für Rechtsextremismusforschung (IRex) der Uni Tübingen.

Sie stellen die Preisfrage: Warum wird in einer Gemeinde die AfD mit absoluter Mehrheit gewählt, während die andere komplett gegen extremistische Ideen immun scheint?

1. Parameter – take what you can

Was betrachten wir jetzt genau bei diesen Analysen? Gehen wir zum Statistischen Bundesamt, werfen wir auch einen Blick in ihre jährliche Haushaltsbefragung: den Mikrozensus.

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Als erstes haben wir da die himmelweiten Unterschiede zwischen Stadt und Land. Zwei Kategorien, die sich nicht vergleichen lassen. Und innerhalb dessen: Einwohnerzahl und das Alter der betrachteten Bevölkerung, die Arbeitslosenquote und wie viel Geld der Gemeinde oder Stadt zur Verfügung steht (Steueraufkommen). Und natürlich Infrastruktur; wie lange brauche ich zur Bushaltestelle und wie häufig kommt der Zug, wie schnell komme ich zum nächsten Krankenhaus mit Grundversorgung?

Und die Ergebnisse sind mehr oder weniger eindeutig, Arbeitslosigkeit wirkt sich negativ aus, schlechte Infrastruktur auch, genauso wie wenig Wirtschaft und damit das knappe Geld, das der Gemeinde durch Steuereinnahmen zur Verfügung steht. Das ist nicht unbedingt etwas Neues.

Aber was wir (oft leichtfertig) daraus schließen, ist falsch. Es sind eben nicht zwanghaft „die Arbeitslosen“ oder „die Alten“ oder „die Armen“, die rechts wählen. Diese Schlussfolgerung ist nicht nur viel zu einfach und verallgemeinert, sie ist auch schlichtweg… falsch. Was uns die Statistiken zeigen, sind nicht die Leute, die rechts wählen.

Es geht darum, dass wir Faktoren gefunden haben, die die Lebensrealität der Menschen negativ beeinflussen. Und diese negative Lebensrealität, die Unzufriedenheit die daraus entsteht, trägt mitunter dazu bei, dass sie rechts wählen. Man fühlt sich als Modernisierungsverlierer.

Mit dem Stichwort Lebensrealität taucht ein weiteres Problem auf: es gibt einen Unterschied zwischen dem, wie es ist, und dem, wie es die Leute wahrnehmen. Auch eine gute Infrastruktur kann als absolut unzureichend wahrgenommen werden – die Zufriedenheit sinkt, und zwar unabhängig von unseren schönen Zahlen. Dazu kommt noch der individuelle soziale Vergleich (Wortungetüm: relative Deprivation), bei dem die Zufriedenheit unabhängig von den eigentlichen statistischen Werten ist.

Man kann also kein lineares Ursache-Wirkungs-Prinzip aufmachen. Schaut man genau hin, sind statistische Unterschiede zwar da, klar, und sie sind auch gewiss ein Faktor, ja, doch allein können sie nicht für diese Wahlergebnisse verantwortlich sein. Da ist einfach noch so viel mehr, so viele andere Faktoren, die nun einmal mit hineinspielen, sobald Menschen interagieren und zusammenleben. Faktoren, die sich nicht in Zahlen ausdrücken lassen.

2. Das, was man schwerer erfassen kann

Soziologie kann natürlich mit Fragebögen und Reportagen arbeiten, aber sind diese Ergebnisse dann skalierbar und für mehr repräsentativ, als nur für eine kleine Gemeinde? Kaum. Denn jede kleine Gemeinde, jedes Dorf und jede Kleinstadt bietet den Menschen eine andere Lebensrealität, die sich nicht einfach mit Parametern und Faktoren eingrenzen lässt.

Viel mehr als der geografische Standort spielt die Geschichte der Region eine Rolle, was die vorherigen Generationen erlebt haben, was die Gemeinschaft prägte. Dann ist da die politisch aktive Szene, wer die Wortführer sind, vielleicht eindrucksvolle, starke, redegewandte Persönlichkeiten. Die künstlerische Szene, die Vereinsdichte und -aktivität. All das kann sich negativ und positiv auf die Wahlergebnisse der AfD auswirken.

Und schlussendlich ist ja auch immer noch die AfD selbst, die die (vielleicht gar nicht so große) Unzufriedenheit und Angst der Menschen schürt und instrumentalisiert, sie auf bestimmte Gruppen und/oder Minderheiten projiziert und Schuldzuweisungen erstellt. Eine Partei, die mit Populismus Menschen täuscht und überzeugt. Sie weiß, was sie tut. Spielt sich als Sprachrohr der „kleinen Leute“ auf, als revolutionär mitunter, als Anti-Partei, als Sündenbock und Opfer. Man sollte ihre Methodiken nicht unterschätzen. Dass sie wirken, ist offensichtlich, wenn man allein die Verschiebung des öffentlichen Diskurs nach rechts betrachtet.

3. Die Preisfrage

Was tun wir nun? In der Politik, in der Kleinstadt, im Familienkreis? Was tut man gegen eine gerissene, menschenverachtende Partei, die unsere Gesellschaft geradezu unterwandert und demokratische Prinzipien verwendet, um der Demokratie zu schaden?

Sagen wir‘s mal so: Ich wäre nicht gern Politikerin.

Klar, da ist die Musterlösung: Infrastruktur ausbauen, soziale vor allem. Nimm den Menschen ihre Zukunftsängste, indem du sie sozial absicherst. Binde sie besser an, schaffe ihnen Möglichkeiten. Gib ihnen reizvolle Aussichten.

Und dann eben die schwer fassbare Komponente: Stärke das Vereinsleben (aber behalte den Schützenverein im Blick), entwickle Kampagnen (aber hüte dich vor Bevormundung) und sorge für interkulturellen Austausch (falls der nicht direkt auf vorurteilsbasierte Ablehnung trifft und zu Gewalt wird). Ja, eine Gratwanderung.

Dazu kommt das Dilemma der relativen Wahrnehmung. Es könnte passieren, dass Dinge (Infrastruktur, soziale Absicherung ect.) verbessert und behoben werden – aber die Gemeinde noch immer unzufrieden ist. Und die Angst vor Neuem und Unbekannten ist ja auch noch ein Thema.

Manche Dinge lassen sich vielleicht auch gar nicht beheben, man könnte es philosophisch formulieren und sagen, sie wären ein Phänomen der Moderne. Landflucht beispielsweise entsteht nicht unbedingt nur durch Perspektivlosigkeit, es sind einfach mehr Möglichkeiten außerhalb geworden, unsere Reichweite hat sich vergrößert. Und durch die digitale, globale Vernetzung weiß jeder davon. Außerdem hat jeder ein Anrecht darauf, im Ausland zu studieren, Work and Travel zu machen, nie wieder in die kleine Heimat zurückzukehren und irgendwo in Indonesien ein neues Leben zu beginnen. Die Exotik der Heirat ins Nachbardorf ist vorbei, auch wenn an einem solchen Lebensstil sicher etwas Beneidenswertes zu finden sein kann.

Wann immer dieses Thema aufkommt, bin ich ab irgendeinem Punkt etwas deprimiert. Um gegen den Rechtsruck vorzugehen muss man am Ende trotzdem an Details werkeln, obwohl das Problem wie ein übermächtiger Berg am Horizont aufragt.

Frankreich hat mir Hoffnung gegeben. Lasst uns das doch vielleicht auch mal versuchen: Differenzen ausräumen, Kompromisse bilden, geschlossen als Masse auftreten.

Ich gebe offen zu, es war etwas illusioniert zu denken, die Wissenschaft könnte uns einen einfachen, statistisch basierten Zehn-Punkte-Plan mit Erfolgsgarantie liefern. Es war die Hoffnung, dieses für mich leider viel zu emotionale Thema etwas gefasster anzugehen. Aber entmutigend ist es nicht – ganz im Gegenteil.

Learning by doing. Society is DIY.


Vielen Dank an: Rolf Frankenberger, Tim Fröhlich

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