vonmaggie 27.09.2024

Widerhaken

Nicht mehr als ein Versuch, meinen Platz zu finden zwischen all den Dingen, die so passieren in unserer wundervollen Welt.

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Seien wir ehrlich, jeder stöhnt manchmal innerlich, wenn die alten Verwandten anfangen, von ihren Krankheiten zu erzählen. Die Augen und die Beine und das Herz – nicht zu vergessen, dass heute Morgen das Brot auf dem Boden (auf der falschen Seite) gelandet ist und es der Rücken ooch eenfach nichma mitmacht.

Unsere Gesellschaft wird immer älter und einsamer. Worin bestehen diese unsichtbaren Schicksale? Wer sind sie, was haben sie erlebt, was sind ihre (teilweise so liebenswürdigen) Macken?

Katja Oskamp stellt sie uns vor, und nicht nur das. Sie präsentiert sie uns auf einem Podest, nimmt uns mit in ihre hockende Position vor dem Fußbad. Geschäftlich distanziert und doch … überwältigend nah. Weil wir es lieben, zuzuhören und Gesellschaft zu bieten.

Die thematischen Leckerbissen des Buches sind zweierlei: einerseits die auftauchenden Persönlichkeiten, oft alt und oft redselig, immer mit Geschichte. Auf der anderen Seite die eigene Geschichte der Protagonistin, Katja selbst kann man sagen, denn sie arbeitet seit 2015 tatsächlich als Fußpflegerin in Marzahn.

Es ist nicht ganz klar, wer hier wem die Bühne stiehlt.

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Jedes Kapitel dreht sich um ein Marzahner, jedes Kapitel skizziert ein lebendes Kunstwerk. Da wäre Frau Guse, die den Kassler mit der Brotschneidemaschiene schneidet, der alte SED-Pietsch, die aufräumende Frau Janusch, diverse Hunde-Enthusiasten, die taube Frau Noll und die keifende Frau Noll. Es gibt Neu- und Stammkunden, es gibt Verwirrte und Verirrte und es gibt lebensverändernde Ereignisse nicht nur im, sondern auch vor dem Salon.

Neben all diesen Menschen ist es Katja selbst, deren Geschichte das Buch füllt. Sie schreibt offen über ihre Zweifel und das Gefühl in der Mitte des Lebens zu stehen:

„Du kannst das Ufer nicht mehr sehen, von dem du einst gestartet bist, und jenes Ufer, auf das du zusteuerst, erkennst du noch nicht deutlich genug. In diesen Jahren strampelst du in der Mitte des großen Sees herum, gerätst außer Puste, erschlaffst ob des Einerleis der Schwimmbewegungen. Ratlos hältst du inne und drehst dich dann um dich selbst, eine Runde, noch eine und noch eine. Die Angst auf halber Stecke unterzugehen ohne Ton und ohne Grund, meldet sich.“

Fazit: Katja Oskamp hat es geschafft, Themen, die alle eher unschön sind, in einen Topf zu werfen, umzurühren und etwas Wundervolles daraus zu schaffen. Geschrieben ohne Scheu und Scham, dafür mit federleichtem Witz. Es ist ein Abbild der Unsichtbaren, klar und wertschätzend, und eine Hymne auf die Mitte des Lebens, feministisch und simpel.

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