vonmaggie 19.01.2025

Widerhaken

Literaturkritiken. Oder: ein Versuch, nicht den Kopf zu verlieren, zwischen all den Worten die so herumirren in unserer wundervollen Welt.

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An allererster Stelle steht die Gesundheit des Einzelnen, denn nur aus ihr erwächst die vollkommene Gesellschaft: Das ist die METHODE. Wer sich dagegen in Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“ (2009) wehrt, untergräbt die staatliche Legitimation und wird entsprechend behandelt. Als rücksichtsloser, systemkritischer Terrorist. In erster Linie als Terrorist.

Einerseits existieren schon seit einigen Jahren keine Krankheiten mehr, anderseits ist jeder Mensch komplett gläsern, denn alle Gesundheitsdaten sind in staatlichem Interesse. Es besteht die Pflicht zur körperlichen Ertüchtigung und einer Partnerwahl innerhalb desselben Immunsystems.

Natürlich fügt sich diesen Vorgaben nicht jeder einzelne Bürger, einer von ihnen ist Moritz Holl. Sein Widerstand findet allerdings nur im privaten Kreis statt, er geht Angeln, sitzt im Laub und debattiert revolutionäre Ideen mit seiner Schwester und Biologin Mia Holl. Diese ist eigentlich eine intrinsische Befürworterin des Systems, liebt aber ihren Bruder über alles.

Dann wird Moritz eine Vergewaltigung und Mord zur Last gelegt – die DNA ist eindeutig, es gibt kaum Debatte während der Verhandlung. Kurz bevor seine Einfrierung – die Höchststrafe, da die Todesstrafe gegen die Prinzipien der METHODE verstößt – vollstreckt werden kann, erhängt er sich in seiner Zelle. Ein Skandal, denn der Mensch hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zu leben. So sieht es die METHODE.

Mia ist am Boden zerstört und verfällt in tiefe Depressionen. Sie wandelt wie eine Seiltänzerin auf einem schmalen Seil umher, schwankend zwischen ihren Überzeugungen. Sie ist sich eigentlich sicher, dass Moritz die Tat nicht begangen hat – aber dann müsste die METHODE fehlerhaft sein. Über dieser Frage nach der Wahrheit vernachlässigt sie ihre Pflichten (Ernährung, Sport etc.) und muss sich gerichtlich dafür verantworten.

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Dass sie sich nicht gerade kooperativ zeigt, macht die Verhandlung nur noch schlimmer – und Mia fängt an, immer mehr an ihren Werten zu zweifeln. Viele Personen wirken auf sie ein, da wäre der Publizist Heinrich Kramer – der unterwürfigste Verehrer der METHODE, wenn die Welt je einen gesehen hat. Einzig in ihren Unterhaltungen findet Mia eine mentale Herausforderung; einen Sinn, wenn man so will – schwierig nur, dass Kramer skrupellos für die METHODE und gegen Mia einsteht. Dann ist da noch ihr Anwalt Rosentreter, der den Prozess führt, als ginge es um sein eigenes Kind. Was bewegt ihn eigentlich?

In Mias hilfloser Lage schafft nur die „Ideale Geliebte“ Abhilfe. Sie existiert nur in ihrem Kopf, bringt Mia nichtsdestotrotz aber immer wieder auf den richtigen Kurs. Damit ist das Revolutionsgestirn komplett und steuert zielsicher auf die Abgründe der Menschlichkeit zu.

Das Werk wird mittlerweile zeitweise in eine Reihe mit den Dystopien „1984“ von George Orwell oder „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley gestellt. Ob das gerechtfertigt ist, ist stark infrage zu stellen. Natürlich zeichnet sich das Buch durch eine hohe Themenvielfalt, diverse Bezüge (z.B. zu den Hexenverbrennungen des Mittelalters) und damit einem hohen Interpretationsgrad aus. Doch die Handlung (eher explosionsartig beschrieben) zerfällt in unübersichtliche Einzelteile neben den ellenlangen Gerichtsverhandlungen und philosophischen Gesprächen. Außerdem muss man anerkennen, dass der Plot-Twist verschiedene Makel aufweist – was neben der sonst allgegenwärtigen Präzision des Werkes ernüchternd wirkt.

Stilistisch sind viele Absätze sehr treffend; blicken wir nur auf Mias Ausruf „Ich entziehe jenem Idioten das Vertrauen, der das Schild am Eingang unserer Welt abmontiert hat, auf dem stand: Vorsicht! Leben kann zum Tode führen.“

Dieses Werk erhebt den Anspruch, als Belletristik durchzugehen und auf dem schmalen Grat zu politisch-philosophischen Manifest zu wandeln. Betrachtet man die Anteile der Handlung versus der anderweitigen Anteile, ist es eher erklärend als unterhaltend. Dass die Spannung trotzdem gut aufgebaut wird, schafft immerhin ein wenig Abhilfe. Rein inhaltlich natürlich ein zutiefst aufrüttelndes Werk.

ISBN: 978-3-442-74066-6

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