vonmaggie 16.06.2025

Widerhaken

Literaturkritiken. Oder: ein Versuch, nicht den Kopf zu verlieren, zwischen all den Worten die so herumirren in unserer wundervollen Welt.

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Natürlich beginnt das Buch mit „früher ekelte ich mich vor Alkohol“. Die Handlung ist klar – ein Mann verliert sich im Alkohol und verschwindet auf die eine oder andere Weise unter den Menschen, die oft gemeinhin als „Ablagerung“ der Zivilisation gesehen werden. Die Idee ist mitnichten außergewöhnlich. Aber unvorhersehbar war das Buch sonderbarerweise trotzdem.

Inhalt

Hauptfigur ist Erwin Sommer, ein gesetzter, nicht zu risikofreudiger Geschäftsmann. Bodenständig. Doch die Situation verschlimmert sich schon auf den ersten Seiten in rapider Geschwindigkeit: Das Geschäft geht vor die Hunde, die Ehe knackst, aus einem Glas wird eine Flasche. Zweitens – und das war es, was mich packte und nicht wieder losließ – trotz der einfachen Begebenheit ist der Verlauf der Geschichte unvorhersehbar. Ohne Herr über seine Sinne und Taten zu sein, bringt sich Erwin von einer misslichen Lage in die nächste, jede Handlung übertrifft die vorherige. Das eigene Haus ausrauben, die ganze Nacht durch Felder laufen (barfuß, wohlgemerkt), fremdgehen und dafür eine Regenrinne hochklettern (oder es zumindest versuchen); nichts scheint absurd genug. Man folgt Erwin Sommer ins Verderben und hadert dabei doch stark mit seinen Sympathien. Auch, wenn man das Mitgefühl für den Protagonisten schon anfangs abgelegt hat, bringt man doch auch keine Sympathien für diejenigen auf, die sich ihm in den Weg stellen. Das treibende Wetteifern um den nächsten Schluck und die nächste Münze lässt den Leser wie betäubt zurück.

Zum Autor

Der Autor Hans Fallada lässt seinen „Unheld“ kontinuierlich zwischen Selbstmitleid und Selbstanklage schwanken – ein Gefühl, das ihm selbst nicht fremd gewesen ist. Als Blaupause für die Handlung diente Fallada sein eigenes Leben: Er war jahrelang alkoholkrank und opiumsüchtig, seit seiner Jugend suizidgefährdet und wurde später wegen Totschlags an seiner Frau angeklagt.

Auch das sogenannte „Trinkermanuskript“ schrieb er in Haft, es wurde erst nach seinem Tod 1947 veröffentlicht. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass sich der Roman eines kurzen, rohen und direkten Stil bedient – fast als würde man ein Tagebuch lesen. Hans Fallada gehörte zu den Autoren, die unter der NS-Herrschaft veröffentlichen konnten (auch wenn er nie in der NSDAP Mitglied war), da er zeitweise kritisch über die Weimarer Republik schrieb und die Themen seiner Werke verlagerte.

En général

„Der Trinker“ ist ein ungeschöntes, emotionales Trümmerfeld. Es fühlt sich an, wie der Unfall, bei dem man einfach nicht wegschauen kann. Folglich ist es auch ein Buch, das mir meine privilegierte Situation immer wieder vor Augen führte. Ich empfand es als aufrüttelnden Gegenpol in einer Zeit, in der „Absturz“ mitunter als medialer Trend verkauft wird. Es ist präzise in der Beschreibung des Alkoholismus, immer wieder überraschend und insgesamt betrübend realistisch.

Der Roman ist nicht schön, er transportiert keine schöne Geschichte – sondern eine echte.

ISBN: 978-3-7529-9940-2

 

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