Als ich dieses Werk aufgeschlagen habe – hohe Erwartungen wegen großer Namen – war ich zunächst … ein wenig überrascht und ein wenig enttäuscht. Gut, ich lese es auf Deutsch dachte ich mir, vielleicht ist es im Englischen weniger komplex und wirr, weniger anspruchsvoll zu lesen und konzentrationsfordernd im Allgemeinen. Zumindest war es nicht, was ich erwartet hatte. Nicht leicht zu lesen und vor allem nicht angenehm zu lesen. Sehr zu meiner Enttäuschung.
Und nicht nur das – ich habe Virginia Woolf immer untrennbar mit Feminismus verbunden und war überrascht, davon zunächst wenig zu sehen.
Ich habe mich darauf eingelassen, schlecht geschrieben ist es ja wahrlich nicht. Ein bisschen gekämpft habe ich schon, auf den ersten Seiten; ich habe wider Willen meine Erwartungen an klare Handlung beiseitegeschoben und mich durch endlose Satzketten mit Details und Assoziationen gegraben. Ich habe mich durch aneinandergereihte Gedanken gebuddelt, auch wenn weder Ziel noch Ende in Sicht war. Und dann habe ich das sprudelnde Grundwasser gefunden.
Weiterhin metaphorisch erklärt, bin ich mitgeschwommen, irgendwann, sobald ich mich vermutlich unterbewusst darauf eingelassen hatte. Ab irgendeinem Punkt hatte es mich ziemlich gepackt. Meine übliche, zügige Lesegeschwindigkeit war wieder da, ich machte mir die Gedanken der Akteure zu eigen und konnte nicht mehr aufhören zu lesen. Normalerweise liebe ich Präzision und bewundere sie sehr, Menschen, die nicht viele Worte machen und trotzdem alles sagen. Mit diesem Roman habe ich wieder mal die Gegenseite schätzen gelernt (wenn auch vorerst nur in literarischem Kontext).
In Mrs. Dalloway verfolgen wir die assoziativ gestalteten Gedankenströme verschiedener Figuren im Laufe eines einzigen Tages – „alle möglichen Kleinigkeiten, tanzend im Kielwasser […] [des] erhabenen Glockenschlags“ von Big Ben. Und zugleich von ihm im Takt gehalten.
Zentrum des Geschehens bildet Clarissa Dalloway, eine reiche Dame mittleren Alters, die am Ende des Tages eine Gesellschaft gibt. Um sie herum lernen wir das Leben, die Gedanken und Beweggründe ihrer Dienstboten und Verwandten, ihrer Jugendfreunde und zufälligen Begegnungen kennen. Den anderen Pol des Buches bildet der kriegstraumatisierte Septimus Warren Smith mit seiner Frau Lucrezia. Wir verfolgen seine Wahnvorstellungen und ihre gemeinsamen Arztbesuche. Am Ende des Romans treffen diese Welten direkt aufeinander, obgleich sie sich auch vorher schon ein paar Mal nahegekommen sind. Das Werk behandelt verschiedenste philosophische, aber auch gesellschaftliche Fragestellungen; es übt Gesellschaftskritik und führt diese quasi in Aktion vor. Darüber hinaus setzte es sich mit Sexualität auseinander und lässt feministische Ansätze anklingen, indem es Frauen für sich selbst stehend in den Mittelpunkt rückt und mit dem Konflikt von gesellschaftlicher Erwartung und Selbstverwirklichung konfrontiert.
Die Aristokratin und Kunstliebhaberin Lady Ottoline Morrel inspirierte Woolf zu ihrer Figur und dem Roman Mrs. Dalloway. Woolf und Lady Morrel lernten sich 1909 kennen und gehörten beide zum Bloomsbury-Kreis, einer Gruppe von Intellektuellen und Künstlern die sich zwischen 1905 und dem Zweiten Weltkrieg in London und Umgebung bildete.
Mrs. Dalloway ist eines der bedeutendsten Werke Woolf und erzählt mit etwas biografischem Hintergrundwissen auch etwas über sie selbst; darüber hinaus findet hier ihre Erzähltechnik einen Höhepunkt. Die sprudelnde Quelle in ihrer Sprache zu finden ist zugegebenermaßen nicht ganz leicht für mich gewesen – aber es lohnt sich. Sehr.
ISBN: 978-3-10-092558-9