Es gibt in der theoretischen Physik den schönen Begriff der Selbstkonsitenz. Theorien müsen nicht nur formal, d.h. syntaktisch richtig aufgebaut sein, wie das von jeder mathematischen Formel gefordert wird, sondern sie müssen auch so interpretierbar sein, dass sie die empirischen Gegebenheiten richtig darstellen.
Selbstkonsitenz ist in der gegenwärtigen Kunst eher die Ausnahme. Syntax und Semantik fallen in den Shows der Kunsthallen meist auseinander wie Kinderbasteleien. Das gilt nicht für das Werk der 32jährigen Barbara Philipp, die in Wien und Amsterdam lebt. Philipp hat Ende der Neuzigerjahre auf der Ecole Nationale Supérieure des Beaux Arts bei Jean Michel Alberola studiert, danach je ein Jahr bei Hermann Nitsch an der Städelschule in Frankfurt und bei Günter Damisch an der Akademie der Bildenden Künste in Wien.
Aktuell macht die Künstlerin nicht durch eine Ausstellung, sondern durch ein kleines, zweisprachig gestaltetes Büchlein mit dem Titel Tasteless/Geschmacklos von sich reden. Ich bin schon lange der Meinung, dass die schönsten Bücher, die heute produziert werden, den Buchmarkt überhaupt nie erreichen. Ich meine nicht die teuren Rarissima der bibliophilen Verlage, die auf handgeschöpftem Edelpapier schwachmatische Gedichte befördern; und natürlich auch nicht die ledergebundenen Vorzugsschwarten, die sich Staatsmänner als Geschenke an den Kopf werfen.
Die spannendsten Buchprodukte der letzten Jahre sind privat für ein privates Publikum entstanden. Neue Kopier- und Bindeverfahren, bessere Preise beim Druck, Fotoshop – das alles trägt zu einem Boom der Kleindruckwerke bei. Die 50 Seiten, die Barbara Philipp aus Bildern und Texten kompiliert hat, bekommen nur Atelierbesucher und Künstlerfreunde in die Hand. Das ist Teil einer bewusst gepflegten Distanznahme zur verluderten Buchkultur der Bestsellerhändler.
Worum geht in Tastelesse/Geschmacklos? Um eine der verborgensten Erfahrungswelten der Gegenwart: die Rituale von Schwangerschaft und Geburt. Schwangerschaft geniesst ja einen einzigartigen Status gegenüber allen anderen Objekten, mit denen sich die Kunst befasst. Als somatische Erfahrung ist der Vorgang weiblich und schliesst somit Männer aus.
Was Philipp in ihren Zeichnungen und skizzenhaften Malereien zeigt, ist die durch medizinische Objektivität produzierte Sterilität des modernen Schwangergehens. Das Erleben einer Schwangerschaft war ja bis ins 18. Jahrhundert gekennzeichnet durch die Ungewissheit des Beginnes, die Ungewissheit der Dauer und die Unsicherheit über den Ausgang. »Die Unterscheidung zwischen einer wahren und einer falschen, eingebildeten Schwangerschaft« erinnert uns die Historikerin Barbara Duden, »war erst nachträglich möglich, wenn die Frau in der Geburt etwas hervorgebracht hatte: hoffentlich ein Kind, vielleicht auch einen Irrtum der Natur, nur Blut und Winde«.
Die Selbstwahrnehmung der schwangeren Frau in Flüssen, ihre grosse und starke Fähigkeit, Ungewisseres, Unvorghersagbares zu erwarten – diese Leistungen sind ihr durch technologische Mittel ausgetrieben worden. Bei Philipp kommt dieses historische Drama etwa im Motiv eines Ultraschallbildes vor schwarzem Hintergrund zum Ausdruck, in dem der Embryo hinter einer rosafarbenen Wolke verschwindet.
Philipp thematisiert die »flüssige Dame«, die Erwartung der Schwangeren auf ein gutes Ende, im neuen Äusseren des Körpers. Die inwendigen Prozesse des Leibes werden nicht als solche, sondern als das Fett der Schwangeren zur Sprache gebracht. Die ursprüngliche Innerlichkeit, die dank dem Fortschritt der Medizin einer »gesichtlosen Welt« (Alena Alexabdrova) gewichen ist, kommt hier gewissermassen über einen Umweg zu Wort.
Was ist eine Mutter? Eine Mutter ist eine, die spürt, dass es den Körper gibt, dass er manipuliert wird, und dass materielle Flecken aus ihm herausquellen, gedeutet werden wollen. Mit dem Stichwort Fett bricht hier ein ganze Lawine von künstlerischen Wahrnehmungen hervor: das Essen, der Kampf um die schlanke Linie, Angst vor Kontrollverlust, Fruchtbarkeitsgöttinnen, … – »Gut und Böse, Versuchung und Verzicht, Exzess und Bedürfnis«(Carole Counihan).
Wir kennen das Thema Fett natürlich aus der Materialkunst der Sechzigerjahre. Der Streit um Beuys‘ fettbestrichene Badewanne beschäftigt die Kuratorenwelt bis in die Gegenwart. Erstaunlich ist, dass Philipp sich von diesem Diskurs abgrenzt. Ihr geht es nicht um Materialwahrheit, um die Aufwertung eines armen Stoffes oder eine bestimmte sinnliche Qualität von Fett. Sie nimmt den symbolischen Faden von Fett auf und beschränkt ihren Beitrag auf die Ästhetik der Bilddimension.
Bei Philipp dienen Schweinefett, Lippenstift und wasserlösliche Farben der Formung von flachen Bildern auf Papier: pastellfarbige Vulvas, Fotografien von Kernöl auf Kürbissuppe, minuziöse Abstufungen von Farbwolken. Die klebrige Qualität des Materials, ja die materiellen Welt überhaupt, wird nur ironisch zitiert – in Form von Beschreibungen aus einem französischen Gourmet-Führer (»weissfleischige Pfirsiche«, »eine Nuance Tiergeruch«).
Philipp erinnert uns auf diese raffinierte Weise an den Vorgang der Abwägung oder Vermutung, der die Schwangerschaft einmal war, und sie stellt ihn der wiederholbaren Messung gegenüber. Hier wird der Ausflug in den eigenen Körper zur kulturgeschichtliche Wiederaneignung einer vergangenen Lebensqualität. »Meine Damen und Herren«, scheint die Künstlerin zu sagen, »das grosse Überraschungsmoment des Lebens hat sich noch nicht zur Gänze in die Gourmet-Küche zurückgezogen. Die Regung des Kindes ist mitten in meinem Bauch.«
© Wolfgang Koch 2009