Eine heilige Schrift der Wibhadschjawādins erzählt:
Es war einmal ein Bōdhisattva in Benares, der ein Mädchen zur Tochter nahm und ihr den Namen »Zweifel« gab. Zweifel wuchs zu einer außerordentlich schönen Frau heran, was sich bis hinauf in die Gemächer des regierenden Königs herumsprach. Als der Herrscher sie zur Frau nehmen wollte, stellte der Vater die Bedingung, dass der König erst den Namen des Mädchens erraten müsse.
Der vornehme Brautwerber mühte sich redlich, legte lange Listen mit möglichen Namen der Tochter an, aber der richtige war nie darunter. Die junge Frau wiederum ermutigte den König bei seiner Suche, bat ihn wiederholt von tiefstem Herzen nicht aufzugeben. Doch irgendwann verzweifelte der Mann dann an der schwierigen Aufgabe und warf das Handtuch hin mit den Worten: »Mich plagt der Zweifel, ob das Leben zu retten gelingt«.
Da rief die Umworbene freudig: »Du kennst doch meinen Namen, du hast ihn gerade genannt, jetzt nenne ihn auch meinem Vater«. – Gesagt, getan, die beiden wurden ein trautes Paar, und wenn sie nicht gestorben sind, so tollen sie noch heute im Wunderlianenwald umher.
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Ich bin kein großer Leser von Poesie – ich ziehe Ideen Bildern vor. Aber gelegentlich gefallen mir auch Bilder ganz gut.
»Was erkennen Sie in dem Märchen?«, fragte mich meine Lehrerin.
Zunächst finde ich es ganz wunderbar, sagte ich, dass der Bōdhisattva Zweifel zur seiner eigenen, höchst persönlichen Sache macht. Auch die christlichen Legenden überliefern uns die quälenden Zweifel ihren Heiligen. Aber diese Märtyrer müssen ihre Glaubenszweifel immer standhaft gegen all Anfechtungen durchstehen, um von höherer Instanz mit dem ewigen Leben belohnt zu werden. Jedes Hinterfragen von Gewissheiten erscheint da als verführerische Macht des Antichristen. Der östliche Heilige hingegen nimmt das selbständige Denken mit großer Sicherheit an, er zeigt höchste Verantwortung für die kindliche Warum-Frage. Sein asketisches Bemühen dreht sich darum, den nagenden Zweifel einzugemeinden, ihm im eigenen Denken ein Zuhause zu geben.
LEHRERIN: Sie sprechen Löbliches von der Geschichte. Was erkennen Sie noch?
ICH: Ist das nicht wunderbar, wie darin die junge Frau dem König Hoffnung macht? Zweifel und Verzweiflung scheinen untrennbar zusammen zu gehören. Die Ermutigungen, die von der Umworbenen ausgehen, machen die Sache für den König aber immer schlimmer. Zweifel vertieft seine Krise beständig, bis der Mann am Ende wie von alleine auf die Lösung des Rätsels kommt. Der Zuspruch der Frau mag sanft-positiv sein, aber er wirkt doch in Wahrheit wie ein monströser Theatereffekt: aufgewühlt ist dieser König, im Inneren verwundet.
»Mehr sehen Sie nicht?«, fragte mich meine Lehrerin, und ich, seitwärts sitzend, antwortete:»Nein, mehr sehe ich nicht«. Nun redete sie mich wieder an:
So hören Sie denn! Die junge Dame Zweifel beehrt den König mit ihrem Umgang. Doch dieser König ist ein Mensch, der in der Nähe des Begehrten den Mut für seine Aufgabe verliert, ja ihn geradezu verlieren muss. Wer ohne Zuvertrauen ist, wird zaghaft, wird innerlich geizig. Was der König am tiefsten Punkt schmerzlich erfährt, das ist, dass ihm erst in seiner aufrichtigen Resignation das Glück zufällt. Das tue ich Ihnen dar, das behalten Sie.
© Wolfgang Koch 2012
Ein sehr schönes Märchen, vor allem die Symbolik.