vonWolfgang Koch 24.04.2012

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Ein vom Buddhistischen Institut in Phmom-Penh aufgezeichnetes altes Volksmärchen:

 

Es lebte einmal ein Mann, der hatte vier Kinder, und jedes sollte eine andere Kunst studieren: das erste der Kinder, richtig zu Essen. Das zweite die Kunst des Schlafens. Das dritte, die Wahrheit in verzwickten Lagen zu erkennen. Die vierte Nachkommenschaft aber sollte die Kunst der Verführung beherrschen.

 

Dieses vierte Kind war ein Sohn, und ihm gelang es mit einer List eine schöne Witwe, die vollkommen in die Totenklage um ihren verstorbenen Gatten versunken war, für sich zu gewinnen. Der Verführer verkleidete sich selbst als todbetrübter Witwer und brachte die Urne mit den angeblichen Gebeinen seiner verstorbenen Frau ins Spiel, indem er nach einer anteilnehmenden Nachtwache am Leichnam des Verstorbenen geschickt und erfolgreich behauptete, der tote Gatte der Witwe habe ihm im Totenreich seine eigene tote Gemahlin abspenstig gemacht.

 

ooooOOOOOoooOOOOOoooo

 

Ach, Gottchen, dachte ich, was ist denn das nun wieder! Muss ich jetzt wirklich jeden Staub aus meinen müden Augen entfernen? Würde meine Lehrerin mich nach dem Sinn dieser Erzählung fragen, fiele mir bestimmt nichts Gescheites ein.

 

Die Lehrerin nahm einen Schluck Tee, rückte ihr Sitzkissen und den Hut auf ihrem Kopf zurecht. Nun wandte sich an mich:

 

»Am schwersten ist wohl die Rolle des Vaters zu deuten«, erklärte sie. »Er repräsentiert nichts anderes als die Öffentlichkeit; hat man das erst einmal akzeptiert, ist der Rest leicht zu verstehen. Der Vater verschafft seinen Kindern die Möglichkeit, Kenntnisse zu erwerben und sie existenziell zu verwerten«.

 

ICH: Da denke ich sofort an Schule, Lehre und Studium, und die Berufstätigkeit danach. Unter einem professionellen Esser kann ich mir ja auch etwas vorstellen: Jobs in der Gastronomie, der Wahrheitssucher könnte Jurist, Kriminalist, Priester oder Intellektueller werden, unter dem Verführer in der Runde stelle ich mir Werber oder Prostituierte vor. Aber wer, um Himmels willen, übt sich in der Kunst des Schlafens?

 

LEHRERIN: Denken Sie an Ärzte, an Wachpersonal, an Flugzeugpiloten – lauter Menschen, die geübt im Schlafen sein müssen. Vielleicht geht es in dem Märchen aber gar nicht um Berufe, sondern um die Beziehung der Künste zueinander. Die Khmer waren eine extrem hierarchische Gesellschaft. Wenn dieses Märchen also etwas aufzählt, so bezieht es die Dinge aufeinander. Die Aussage könnte sein: Zuerst müssen die physischen Grundbedürfnisse gestillt sein, dann erst kommt der Luxus des Erkennens und der Erotik.

 

ICH: Muss man das so kompliziert sagen?

 

LEHRERIN: Sie sind zu ungeduldig, mein Lieber. Der Hinweis, dass auch das Schlafen gelernt sein will, ist in der heutigen Zeit, inmitten eines Ozeans von Medikamentenmissbrauch, keineswegs banal.

 

Ohne Freude oder Unwillen zu äußern, ließ ich, trotzdem ich unbefriedigt war, kein unbefriedigtes Wort mehr fallen.

 

LEHRERIN: Das Nebeneinander von Essen und Schlafen, von Selbstbeobachtung und Verführungskunst lässt auf ein ziemlich gesundes Gleichgewicht schließen. Und im Fall des 4. Kindes kriegen wir am Ende noch eine starke Botschaft als Draufgabe: Aus einer Trauer über etwas Verschwundenes lösen wir uns nur durch neue Gefühle. Den Brand des Todes löscht man nicht mit Wasser, nicht durch Entkräftigung oder Hunger. Den Brand des Todes löschen wir nur mit Feuer.

 

Ich danke und bestreute in Gedanken meinen toten Leib mit Sandelholzpulver.

 

© Wolfgang Koch 2012

 

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