Wien ist verglichen mit Kärnten oder der Steiermark nicht gerade gesegnet an romanischen Bauschätzen. Ein paar Gewölbebogen in Kirchen und Kellern, Schwellen in Kreuzgängen, das Westwerk von St. Stephan – der Rest liegt unter der Erde oder ist für immer verschwunden.
Wer in dieser Stadt das Lebensgefühl der Karolinger, Kuenringer und Babenberger nachempfinden will, verlegt sich besser auf Preziosen und geht in die Schatzkammer. Dort stößt man auf Hauptwerke der Romanik.
In Ermangelung wertvoller baulicher Relikte spielt die Pfarrkirche im niederösterreichischen Schöngrabern, auf der ehemaligen Hauptverbindung nach Prag gelegen, eine für die Forschung notorische Rolle. Seit dem 19. Jahrhundert arbeiten sich immer neue Generationen von Kunsthistorikern, Theologen und Heimatforschern an diesem eigenartigen Bauwerk ab.
Wie an gewissen Details der Stephanskirche überzeugt Walter Seitters Methode der »monumentarische Archäologie« auch hier nicht ganz. Zwar vergleicht er die grandiose Außenapsis der Kapelle in Schöngrabern mit dem Skulpturenensemble des Regensburger Schottenklosters St. Jakob, bleibt uns aber Einzelheiten schuldig.
Bis zu fünf Bildhauer sollen im ehemaligen Breitangerdorf von Schöngrabern gleichzeitig an der Arbeit gewesen sein. Man findet heute zu dem Bau in der Literatur alles, was einem Kunsthistorikerherz zur Bildsprache im Kirchenraum und zu den Skulpturen an der Apsis nur einfallen kann: Gnosis (Joseph von Hammer-Burgstall, 1818), Häresie (Josef Lieball, 1982), und wieder das genau Gegenteil davon: nämlich das massive Auftreten gegen ketzerische Verderbtheit und Rekatholisierung in der Diözese Passau (Werner Telesko, 1997).
An der bedeutung von Schöngrabern entzünden sich seit bald 200 Jahren die Fantasien der Wiener. Von einer Betonung der Eucharistie im Skulpturenprogramm, wie das andere sehen, will Seitter nichts bemerkt haben. »Die Versuchung des Menschen in beiderlei Gestalt durch böse Gewalten« – nur auf dieses eine Minimalprogramm können sich vielleicht alle Beforscher von Schöngrabern einigen.
Seitter betont besonders den Gegensatz zwischen dem zisterziensischen Innenraum und der Schauwand des Rondells – allerdings ohne zu berücksichtigen, dass sich die vermutlich bedeutendste Gruppe unter den plastischen Figuren an der Außenwand ursprünglich im Inneren befunden hat. Und zwar nicht einfach nur im Inneren, sondern an der wichtigsten Stelle des Kirchenraums.
Der Drang zur plastischen Gestaltung in dieser ursprünglich mit Passau verbundenen Pfarrkirche war so stark, dass dort, wo sonst ein gemalter Pantokrator thronte, eine Madonna mit Kind, Engel und Stifterfigur zu sehen war. Das Relief musste erst der Errichtung eines Barockaltars weichen, wurde abgemeiselt und an der Außenapsis neu angebracht.
Dieses von Seitter übergangene Moment grenzt seine Interpretation doch wieder ein. Seitter bestreitet schlicht einen Bezug des Skulpturenprogramms zum Altar im Inneren und erklärt ausgerechnet diese »Beziehungslosigkeit« zum Merkmal der Romanik. Der Innenraum leuchtet bei ihm in zisterziensischer Helligkeit; die Außenapsis hingegen fällt in einen wilden Tumult von Monstern, Tieren und unförmigen Menschen zurück.
Dabei zeigt der Innenraum der Kirche durchaus Massigkeit der kubischen Form. Ich will damit die deutliche Eigenart von Schöngrabern nicht in Zweifel ziehen, neige aber doch mehr zur Interpretation von Fritz Novotny, der 1964 meinte, in Schöngrabern habe der unbändige, heidnische Primitivismus früherer Zeiten noch einmal mit »derber elementarer Kraft« durchgeschlagen.
Für Seitter schrecken die Skulpturen »nicht vor Primitivismus« zurück, symbolisieren im Rahmen einer »reaktionären Romanik« aber den großen Abwehrzauber einer altlantisch-ozidentalen Gotik. Anders als Novotny unterstellt er der künstlerischen Arbeit eine vorsätzliche Abgeklärtheit, ein Moment, das dem Archaischen, Unnachgiebigen bewusst einen Vorrang vor dem Geometrisch-Organischen einräumte.
Beweisbar ist das nicht. Die romanische Bildkunst war stets voll von Bedeutungen, widersprüchlichen Tendenzen, Irrationalismen – von der fragmentarisch erhaltenen Schauwand der Stephanskirche bis nach Schöngrabern und Kleinmariazell.
Natürlich ist es richtig, den hochfliegenden Spekulationen der Kunsthistoriker und Heimatforscher eine klare Absage zu erteilen. Schöngrabern wurde bereits im Sinn der gnostischen Sekte der Ophiten interpretiert, dann in der Verbindung zur Sekte der Kainiten, Freimaurer und Okkultisten haben sich daran zu Schaffen gemacht, Landesausstellungen augenzwinkernd Geheimnisse versprochen, die sie dann nicht halten konnten.
Vermutlich wird sich das Rätsel erst lösen, wenn sich der Blick auf die Friedhofsfunktion der Anlage und die Mentalitäten der Entstehungszeit weitet. Die Epoche zwischen der Mitte des 11. Jahrhunderts und dem frühen 13. Jahrhundert war von heftigen Umbrüchen in fast allen Lebensbereichen charakterisiert. Rasante Bevölkerungsvermehrung, Lösung des Ich-Bewusstseins aus der Gruppenbindung, vermehrte Lebenszuwendung, Personifizierung des Todes und Intensivierung der Teufels- und Jenseitsfurcht.
Die Ausdifferenzierung des Fegefeuerglaubens lag im 12., seine Dogmatisierung im 13. Jahrhundert. Von den begleitenden Liturgiereformen aber, vom echatologischen Heil und der frühmittelalterlichen Angst vor dem Tod scheinen manche Steine heute nur sprechen zu wollen, wenn wir dazu auch die überlieferten Texte befragen.
© Wolfgang Koch 2012
Walter Seitter: Reaktionäre Romanik. Stilwandel und Geopolitik, 139 Seiten, ISBN 978 3 85449 361 7, Wien: Sonderzahl 2012, 18,- EUR
TEILE DER SERIE [a-f]:
St. Stephan und das höhere Verlangen des Augenblicks
Was zum Teufel ist »Reaktionäre Romanik«?
Der unvermeidliche Ausflug der Wiener nach Schöngrabern
Makro-Historie am Beispiel der Wiener Stephanskirche
Walter Seitters weltgeschichtliche Wiederaneignung des Westens
Der neuerliche Zeitsprung durch den islamischen Terrorismus