Es gibt im deutschen Sprachraum wohl kein eindringlicheres Beispiel, wie Web-Aktivitäten eine Qualitätszeitung schrittweise zerstören. Die pro-sozialdemokratische österreichische Tageszeitung Der Standard, herausgegeben von prominenten Wiener Juden Oscar Bronner, hat sich frühzeitig für eine interaktive Webpräsenz entschieden. Sämtliche redaktionellen Inhalte können seit Jahren kostenfrei im Netz abgerufen und anonym kommentiert werden.
Der erste Effekt dieser elektronischen Verstärkung der Zeitung war, dass österreichische Intellektuelle sich schrittweise von den beliebten Kommentarseiten des Blattes zurückzogen. Verehrungsheischende Autoren wie Rudolf Burger, Franz Schuh und Robert Menasse vertragen es nun mal nur schlecht, wenn jede ihrer Äußerungen unerbittlich von einem schreibmordlüsternen Mob niedergemacht wird.
Der Großteil der Poster sind junge Männer, teils noch im Gymnasialalter, Studenten, Jungakademiker. Sie reagieren auf alle Artikel aggressiv und negativ, machen lustbetont jede Äußerung herunter, soweit es die Faktenlage zulässt, und nicht selten trotz dieser. Die Generallinie der Standard-Postings strebt nach intellektueller Unbefangenheit, erzeugt komplizenhaft eine Neurose, die sich hegemonial alle Formen von Nachdenklichkeit unterwirft.
2011 reagierte die Redaktion auf das explodierende Pülchertum auf der Website mit einer Reihe von Maßnahmen: Moderatoren wurden eingesetzt, längere und unbezahlte Leser-Kommentare möglich gemacht. Bei Todesfällen ist das Forum geschlossen, was zur Absurdität führt, dass ausgerechnet beim Ableben der besten Köpfe im Land nichts gesagt werden kann. Und die feministische Kuschelecke des Blattes schließt das Forum überhaupt gleich tageweise.
Gebracht hat das alles recht wenig. Die Kommentarspalten werden vollgepostet von Neuen Atheisten und doktrinären Meinungsbesitzern aller Richtungen. Religionen gelten an diesem Ort als eine Art Menschheitsverbrechen; die Kirchen als Gefängnisse des freien Geistes. Dass an der Nation Österreich kein gutes Haar gelassen wird, ist natürlich ebenso Konsens, der nur noch vom Hass auf das Bundesland Kärnten und seine Repräsentanten übertroffen wird.
Die Web-Moderatoren der Zeitung dämmen lediglich einen Teil des Unrats ein, und schwemmen gleich auch jede Sprach- und Blattkritik, welche die Fehler der Redaktion aufzeigt, mit fort. Das eigentliche Drama besteht allerdings darin, dass die Niveaulosigkeit der Postings unaufhörlich auf die professionellen Schreiber der Redaktion abfärbt.
Das Blatt unterscheidet sich im Meinungsalltag kaum mehr vom österreichischen Medienbrei; es setzt Maßstäbe für eine Kleinintelligenz und unterbietet nahezu täglich den eigenen Qualitätsanspruch. Hier wahllos ein paar Beispiele aus den Tiefen des Sommerlochs:
Letzte Woche erfuhren wir dank der Redaktion von der Existenz eines »lebensgroßen Teddys« auf der Wiener Gürtelstraße. Nein, kein Scherz: »lebensgroß«, also vermutlich so hochgewachsen wie der Herausgeber, vielleicht aber auch einen Kopf kürzer.
Um den ganzen Globus herum war man sich in der Qualitätspresse einig, den US-Killer James Holmes nicht »Batman-Attentäter« oder »Kino-Terroristen« zu nennen, um sein Massaker nicht sprachlich zu verharmlosen. Nur am Standard-Kommentator Gerfried Sperl, Ex-Chefredakteur des Blattes, und an der Redaktionen ging soviel Sensibilität wieder einmal unbemerkt vorüber.
In der letzten Kolumne von Julya Rabinowich durften wir folgendes Geschwurbel lesen: »Aber die Erfahrung lehrt, dass der Wähler zum More of the Same tendiert statt zum Learning by Doing, während eine erkleckliche Anzahl der Politiker lieber part of the game spielt, mittlerweile auch ohne nach der Leistung zu fragen«.
Vollkommen faktenfreie, leere Worthülsen, zu Phrasen aneinandergereiht. Akademische Klugscheißerei zur Erzeugung von Stimmungen. Kann es da noch verwundern, dass in den Online-Kommentaren desselben Blattes ungestört Rassisten und politisch-korrekte Antisemiten zu Wort kommen?
Von wenigen Tagen durfte die Wiener Vizebürgermeisterin Vassilakou wiederholt als »Vassilakuh« verhöhnt werden. Und in der Beschneidungsdebatte meldete sich gerade eine »norma44« zu Wort, die sich wünscht, dass man erwachsene Juden »auch ohne Narkose beschneidet, damit sie merken welche Schmerzen den Babys zugefügt werden«.
Endlich darf sich das seit den Pogromen 1938 einschlägig vorbelastete Österreichertum wieder mal gequälte Juden ausmalen, und sei es auch nur in der Fantasie. Endlich hat die antisemitische Seelenqual einen neuen Stammtisch gefunden! Dass der ausgerechnet das lachsrosa Akademikerblatt in Wien sein würde, hätte vor zehn Jahren noch niemand gedacht.
© Wolfgang Koch 2012
Früher war die Zeiung viel Informativer als heute.Ausserdem ist das Format noch immer sehr seltsam.