vonWolfgang Koch 16.10.2012

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Die Geschichte der Moderne beginnt lange vor dem 15. und 16. Jahrhundert, vielleicht mit der Erfindung der Geldwirtschaft in den Hochkulturen der europäischen und der indischen Antike, sicher aber mit der Ersten industriellen Revolution, in der der Reformorden der Zisterzienser zum benediktinischen Ideal der Askese zurückkehren wollte.

Uralte Mauern des Westwerks, ganz neu / Foto: Gisela Erlacher

 

Die Mönche suchten sich bewusst beschwerliche Arbeitsbedingungen aus, sie stellten körperliche Arbeit und Kultivierung der Natur in den Mittelpunkt des klösterlichen Lebens.

 

So verband sich disziplinierte Arbeit mit dem rationellen Einsatz von Technik und Natur. Der Leidenscharakter der körperlichen Arbeit wurde zwar nicht überwunden, konnte es noch nicht werden, aber er wurde ins Positive gewendet. Alle Plackerei sollte fortan durch technische Innovationen und organisatorische Rationalisierung beseitigen werden.

 

Das ist der wirtschaftsgeschichtliche Hintergrund von Walter Seitters makrogeschichtlichem Ansatz. Sein historischer Strukturalismus betrachtet politische und soziale Einheiten allerdings als Ausdruck einer viel umfassenderen kulturellen Konfiguration, die über die Wirtschafts- und selbst über die Ideengeschichte hinausreicht.

 

Auch für Seitter waren die alten Altäre von Dämonen bewohnt, doch es waren nicht die Dämonen der Ökonomie. Im Vordergrund seiner Beschreibungsarbeit steht die Unterscheidung von herrschenden und unterdrückten Vorstellungen. In der These von der »reaktionären Romantik« trifft eine zentralisierende despotische Zivilisation auf halbegalitäre Reste einer ursprünglichen Kopie der römischen Kultur.

 

Hier wirkt also ein Zentrum-Peripherie-Modell oder eine Mittelpunkt-Rand-Sichtweise, die ihrerseits das Produkt einer Kosmologie ist. Die entferntesten Ecken des Heiligen Römischen Reiches, damals der äußerste Teil des Westens, sollen sich mit romanischen Grotesken gegen den Veränderungsbedarf in seiner Mitte gewehrt haben.

 

Seitter stellt sich, wie schon seit Lehrer Foucault, die Geschichte des Westens als einen einmaligen Austreibungsvorgang in der Gesellschaft vor: einer Austreibung des Dummen und des Primitiven, des Mannigfaltigen, zum Zweck der horizontalen Trennung von Imperium und Sacerdotium.

 

Kirche und weltliche Macht lagen im Streit, und die Gotik setzte gegen die »unreinen« Bildprogramme der Romantik die totale Christianisierung durch. Ihre Suche nach den »reinen« Stoffen entsprach die Definition von Nichtreinem als Abfall.

 

Seitter sieht den Westen in dieser Verschiebung der Weltachse von Ost/West (oder Süd/Nord) zu West/Ost entscheidend zur Hervorbringung einer überlegenen Zivilisation disponiert. Dazu gehörte unter anderem das Aufkommen des spezifisch westlichen Krisenbewusstsein einer unentwegten Bedrohung aus dem Osten.

 

Alles richtig und nicht von der Hand zu weisen. Und trotzdem bleiben Zweifel: nämlich dass wir es bei der »reaktionären Romanik« mit einem Kampf von Gewinnern und Verlierern zu tun haben, mit einer senkrechten Beziehung, in der ein nur machtpolitisch erklärbarer Hang zur Ausbreitung eines neuen Wissens bestand.

 

Gewiss, die Gotik wogte unzweifelhaft aus dem Westen in unseren bewaldeten Winkel der Welt. Aber dieser Prozess war weder ein- noch erstmalig. Die übers Eck gekuppelten Rundbogenfriese mit Lilienbünden am Riesentor der Stephanskirche gehören zum viel früheren normannischen Formenschatz. Der kulturelle Wind bließ also schon seit dem 8. Jahrhundert nicht immer nur aus dem Osten.

 

 

© Wolfgang Koch 2012

 

 

Walter Seitter: Reaktionäre Romanik. Stilwandel und Geopolitik, 139 Seiten, ISBN 978 3 85449 361 7, Wien: Sonderzahl 2012, 18,- EUR

 

 

TEILE DER SERIE [a-f]:

St. Stephan und das höhere Verlangen des Augenblicks

Was zum Teufel ist »Reaktionäre Romanik«?

Der unvermeidliche Ausflug der Wiener nach Schöngrabern

Makro-Historie am Beispiel der Wiener Stephanskirche

Walter Seitters weltgeschichtliche Wiederaneignung des Westens

Der neuerliche Zeitsprung durch den islamischen Terrorismus

 

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