vonWolfgang Koch 30.11.2012

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

Mehr über diesen Blog
 
Der sich selbst austragende Westen / Foto: W. Koch

Dass ein Kunstwerk »modern« oder »reaktionär« sei, ist eine chronometrische Aussage. Nach 700 Jahren muss es meines Erachtens gar nichts mehr sein, was sich irgendwie adjektivieren liesse. Allein, wenn es gut war, also immer noch gelungen dasteht, und auch im neuen Zeitkontext prima funktioniert, ist es gut.

 

Langlebigkeit war für Ernst Jünger ein Gleichnis, doch ein Gleichnis wofür? Die Steinkreise von Stonehenge im Süden Englands zum Beispiel, die vermitteln uns heute die Bedeutung der Sesshaftigkeit für den Menschen. Erst die Bauern des Neolithikums können über genügend Zeit verfügt haben, solche aufwändigen feste Plätze für kultische Zwecke zu gestalten.

 

Wofür steht nun die Langlebigkeit der verspäteten Romanik? Nach Walter Seitter zählt die »europäisch-lateinische Romanik« zu einem größeren Kulturkreis, der einst weit bis nach Afrika und Asien reichte und dessen historisches Zentrum Konstantinopel hieß.
 
 
Dieser Gemeinschaftsleistung gegenüber stand der gotische Bruch, und den gab es nur in Westeuropa. Der Kirchenbau verstieß Tierbilder und Krypten aus seinen Mauern. Eine schwebende Eleganz gleichförmiger Glieder zog als ästhetisches Prinzip ein. Skulpturen emanzipierten sich von der Wand. Chimären wichen, wie von Zauberhand, dem Blatt- und Blütenkapitell. Aus Konstaninopel aber wurde im Gegenzug ein unbewegliches, monistisches »Byzanz«; westeuropäischen Kreuzfahrer zwangen unter der Führung der Republik Venedig der eroberten Stadt ein »lateinisches Reich« auf.
 
 
Chimärenheimat, ohne praktische Vorbildfunktion. An der Spitze der Kapitalen stand fortan Paris. Wie einst die Akropolis nach dem Niedergang Athens stehen geblieben war, um die ansässigen Kulte weiterzuführen, taugte auch Byzanz nur mehr als religiöse Weihestätte.
 
 
In diesem Sinn interpretiert der forschende Philosoph Seitter die Gotik als »die erste Selbstaussage des Abendlandes« mit einer homogenen Formensprache. Der Westeuropäer hatte sich vom Mittelmeerraum ästhetisch und moralisch losgesagt, ein atlantisches Zeitalter hob an, schwelgte in Farben, Licht und Anmut.
 
 
Seitter spricht hier von einer »stupenden Umdrehung der Geokinetik«. Denn die Sonne mochte weiterhin im Osten aufgehen, Tag für tag, das Licht des Fortschritts aber brach sich genau umgekehrt Bahn. Die nordwestlichen Völker, keltische und germanische, hatten seit dem 8. Jahrhundert eine derartige Beweglichkeit und Geschwindigkeit entwickelt, dass das Deutsche Reich von Irland und England aus christianisiert worden war.
 
 
Die zweite Welle wehte nicht mehr als sanfte Westbrise heran. Nach Spanien und England emanzipierte sich nun auch das Frankenland von Rom. Dem gegenüber hingen die deutschen Länder weiter am Stuhl Petri und den Insignien der Antike, kamen nicht los von den ständigen Kaiser-Papst-Konflikten. Wenn im 13. Jahrhundert also noch in der alten Bauform Gebäude errichtet wurden, analysiert Seitter, so hielt man in Zentraleuropa wohl aus Gründen der symbolischen Kontinuität daran fest.
 
 
Laut dieser neuen westlichen Kosmologie aus Wien verschob sich im 13. Jahrhundert die mediterrane Zentrierung zu einer atlantischen Orientierung, die Seitter konsequenterweise »Okzidentierung« nennt. Und dieser Autor wäre kein politischer Denker, wenn er daran nicht wenigstens noch eine kleine Spekulation anschlösse.
 
 
Nach dem Zusammensturz des Word Trade Center am 11. September 2001, so Seitter, hätten tagelang »nur gotische Gitterstücke« in den Himmel geragt. Die Selbstmordattentäter hätten die »gotische Struktur der beiden Türme freigelegt«.
 
 
Waren also diese Dschihadisten von 2001, die Brüder der Salafisten von heute,  wirklich die fernen Abkömmlinge einer »reaktionären Romanik«, deren größerer Kulturkreis einst bis in die Herrschaftsgebiete des Islam hinein ausgestrahlt hatte?
 
 
Gewiss, auch wenn Seitter diese spannende These nur am Rande vorträgt, so hat er sich damit doch weit von seiner anfänglichen Trigonometrie der Steine entfernt. Er ist nun kein »monumentarischer Archäologe« mehr, der zu der Sprache der Formen reist. Er spekuliert und sitzt wie weiland Jean Baudrillard fasziniert vor dem Bildschirm.
 
 
Macht nichts! Im Vergleich mit den Delirien der Verschwörungstheoretiker in den Nullerjahren wirkt Seitters gewagte Spekulation über die »Zeitsprünge« in der Zivilisationsentwicklung des Westens immer noch sympathisch bescheiden.
 
 
© Wolfgang Koch 2012
 
 
Walter Seitter: Reaktionäre Romanik. Stilwandel und Geopolitik, 139 Seiten, ISBN 978 3 85449 361 7, Wien: Sonderzahl 2012, 18,- EUR
 
 
TEILE DER SERIE [a-f]:
 

St. Stephan und das höhere Verlangen des Augenblicks

Was zum Teufel ist »Reaktionäre Romanik«?

Der unvermeidliche Ausflug der Wiener nach Schöngrabern

Makro-Historie am Beispiel der Wiener Stephanskirche

Walter Seitters weltgeschichtliche Wiederaneignung des Westens

Der neuerliche Zeitsprung durch den islamischen Terrorismus

 

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/wienblog/2012/11/30/der-neuerliche-zeitsprung-durch-den-islamistischen-terrorismus-f/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert