Warum fühlt man sich unter Neutönern immer irgendwie jünger? Alle paar Minuten würde ich am liebsten die Darbietung unterbrechen und ein beherztes: »Das sehe ich ganz genau so wie Sie!« auf die Bühne rufen. Logisch, dass ich mich keine zwei Mal bitten liess, als der aufstrebende junge Brite George Jackson im Oktober zu einem Konzertereignis in Wien rief.
Im dunklen Bario-Saal des Konzerthauses veranstaltete die freundliche Familie der Schnabeltiere bereits zum fünften Mal einen Erstaufführungsmarathon. Hörenswerte Musik, schwatzend wie Schwalben, frei von akademischen Fesseln, in größtmöglicher künstlerischer Freiheit, vorgetragen von den Ensembles KonsPercUssion, Platypus und Gästen.
Zu Beginn knisterte ein Schlagwerk des iro-norwegischen Komponisten Eric Skytterholm Egan. Nicht nur Klangmuster brachen da mutwillig ab, behutsam modelten die Tone meinen Geist um, löschten die falsche Erwartung von Sensationen.
Als nächstes versammelten sich drei Trommler zu einem Perkussionsstück der Spanierin Julian Àvila Sausor um die Pauken. Der Zeremonialgedanke der Komposition fand im Rieseln kleiner Kügelchen auf die Trommelfelle einen würdigen Schlußpunkt.
Es folgte die Multimedia-Session »hinausgehen« von Julian Gamisch, einem Kompositionsschüler meines, ja, ehemaligen Mitschülers Wolfgang Liebhardt. »Ich löse mich vom Klang meiner Fantasie«. Dieser Satz ragte heraus aus dem Gemurmel von Alltagsgeräuschen und Leinwandprojektionen. Die zwölf Minuten vermochten aber nicht auf den theatralischen Effekt von getriebenem Schlagzeug und einer Entkleidungsübung des Rezitators zu verzichten.
Aus Ljubeljana stammt der Komponist Nejc Kuhar, der den nun einmal aufgewirbelten Kosmosstaub mit Sturmglocken und Donner weiter aufrührte. Am überlauten Höhepunkt seines Satzes sollten extreme Lautstärke und Brutalität in den Klang von splitterendem Glas gipfeln. Allein, in punkto Charakter konnte ich an dem Scherbenfall keinen Verfremdungseffekt feststellen. Für meine Ohren fügte sich das exquisite Geräusch von splitterendem Glas vollkommen harmonisch in das Andante ein.
Gibt es ein Wort für uneinholbares Hmmmen? Eines für rührendes Kgrrrrrken? Die nordenglische Musikwissenschafterin Lauren Redhead setzte diese und viele andere mezzosopranische Laute punktgenauen Tönen aus der Bassflöte entgegen. Gewiss, die Augenblicke, in denen sie ruhten, vergegenwärtigten sich stärker. Aber auch das Grossreinmachen der klassischen Perioden wollte so noch kein Ende nehmen.
Rafael Nassif stammt aus dem brasilianischen Belo Horizonte, was ich bloß des Namens wegen erwähnenswert finde. Dieser junge Komponist steuerte zur zweiten Stunde des Konzert Fragmente bei, welche drei Musiker an Klarinette, Bratsche und Klavier frei arrangierten.
Der Pianist Frederik Neyrinck hat bei Clemens Gadenstätter, einen der besten musikalischen Interpreten von Hermann Nitsch, in Graz studiert. Während sich die Übersetzer von Baudelaire-Sonetten die Haare raufen, um zu einem wirklichen Äquivalent des französischen Ausdrucks zu gelangen, während zum Beispiel der Kommunist Ernst Fischer 1947 fragte, ob nun in den gegenständlichen Sonettzeilen von »Niedertracht« die Rede ist, und Carl Fischer 1979 an dieselbe Stelle »Scham und Schande« hinsetze, egal, im Musiksaal wird die schwelgerische Nacht einfach mit subtilen Klangfarben illustriert.
In der dritten Stunde des Marathons bekamen wir eine Komposition der Kanadierin Nova Pon zu Gehör. Man stelle sich vor, Jan Garbarek sei zum Frühstück bei Edvard Grieg eingeladen. Die Herren sitzen um ein ovales Tischchen mit Blick auf den Garten, fingern Salzkörner aus einem Schüsselchen und schlürfen abwechselnd den Dotter aus der Schale, statt ihn zu löffeln oder mit Brot aufzutunken.
Langsam wurde ich müde. Den Abschluss der Konzertstunden bildeten für mich acht Saxohon-Violoncello-Minuten der Slowenin Alja Zore, die sich die aufregende Theoriefrage stellt, ob die Art und Weise wie wir unsere Gedanken transformieren der Art und Weise gleicht, wie musikalisches Material transponiert wird, mithin, ob die Faszination von Klangwelten in einer neuronalen Entsprechung des Ohres zum menschlichen Gehirn liegt.
Nach diesem Act war ich erschöpft, holte mir meine Flügel aus der Garderobe ab und flatterte über das nächtliche Wien nach Hause. Der Auftritt des smarten Dirigenten war erst in der vierten und letzten Stunde des Marathons vorgesehen. Er wird untröstlich sein.
© Wolfgang Koch 2013