Lieber Julian Schmid,
das letzte Jahr war kein schlechtes Jahr für mich. Ich konnte als notorischer Linkswähler bei der Nationalratswahl die 100% intellektuellenfreie Regierungspartei SPÖ, deren führende Köpfe unter Regieren das Verwalten von Regierungsämtern verstehen, ankreuzen; oder ich konnte der Akademikerliste der Grünen meine Stimme schenken, die mich mit allerlei politischen Kontroll- und Sauberkeitsversprechen zu ködern versuchten.
Natürlich wusste ich, dass das Parlament in Österreich gar nichts effektiv kontrollieren kann. Das besorgen in diesem Land immer noch die jeweiligen Koalitionspartner in der Regierung, und sie besetzen dabei, vom Staatsminister ganz oben bis hinunter bis zum kleinsten ÖBB-Lagermitarbeiter, jeden staatlichen und staatsnahen Posten im bewährten Proporztauschverfahren.
Ich bin trotzdem zufrieden; mehr als die Wahl zwischen Pest und Cholera ist in einer Demokratie massenmedialen Zuschnitts einfach nicht zu haben. In den USA oder in Italien wäre alles noch viel schlimmer; da gibt es nicht einmal unanständige Sozialdemokraten und abgehobene Ökolinke.
Und so sitzt du also nun, mitgestützt durch meine Stimme, in einem dieser begehrten, ein wenig nach links und ein wenig nach rechts schwenkbaren Ledersitze des Allzu Hohen Hauses am Wiener Ring.
Das verstrichene Jahr war für dich ein eminent erfolgreiches Jahr. Freilich begleitet dich im Grund genommen schon seit deiner Entscheidung vor zehn Jahren, von der Schülervertretung weiter in die Politik zu gehen, eine dicke, fette Glücksträhne. Sie hat dich über Kantinenboykott und Kopiererstreik in der Schule, über Delegiertenreisen und Parteitagsreden in den Nationalrat getragen, wo du nun als unverbrauchter Volksvertreter hoffst, die Verhältnisse zum Guten zu verändern.
Und bewegt muss dieser Tage nun wirklich eine ganze Menge werden.
Es ist ja geradezu grotesk, mit welch penetranter Intensität uns Spitzenpolitiker tagtäglich erklären, dass wir in beneidenswerter Sicherheit und im Wohlstand leben, es ist haarsträubend, wie Regierungsvertreter ein Machbarkeitsversprechen nach dem anderen abfeuern: Eurorettungsschirm, Friedenscorps in Mali, kürzere Wartezeiten in den Spitälern –, so als würden wir Bürger Europas heute nicht viel mehr unterwegs sein als noch unsere Eltern, und so als hätten wir auf unseren Reisen nicht überdeutlich vor Augen, wie uns Nordamerika und Asien technologisch und wirtschaftlich abhängen.
Man muss aber gar nicht so weit schauen. Jeder durchschnittliche Kinderspielplatz im Norden Europas bietet Kindern mehr als ein durchschnittlicher Kinderspielplatz in Österreich. Gegen jeden durchschnittlichen Schulbau in Nordeuropa stinken Österreichs Klassenzimmer ab wie ein Fiaker gegen ein Raumschiff.
In Dänemark werden Neuwagen, die nicht elektrisch betrieben werden, mit 200% besteuert. Die viel breiten Fahrradwege sind dort allesamt durch Gehsteigkanten markiert; sie werden eben nicht, wie im selbstgefälligen Wien, zu Lasten der Fußgänger auf die Gehsteige gepinselt.
Und so ließe sich diese Liste von sichtbaren Rückständen in Österreich über viele Seiten ziehen.
Das neue Jahr wird sicher kein einfaches Jahr. Die unbelehrbaren Linksradikalen dürften als lautstarker Nostalgiekult wiedererstehen, falls sich der kubanische Exdiktator Fidel Castro doch einmal entschließen sollte in das Tauchbad aus Glyzerin plus Chinin zu steigen, das auf ihn wartet [ich habe sein sozialistisches Ableben, welches den Tod Lenins gewiss noch übertreffen wird, allerdings schon einmal falsch vorhergesagt].
Griechenland steht in den kommenden Monaten am Scheideweg zwischen Bürgerkrieg und alkoholischem Massenausschank mit Tankwagen an jeder Straßenecke. Schon heute ist es ja das sprichwörtliche Phlegma der Griechen, das heißt ihre Lustlosigkeit und ihr Fatalismus, was die Massen vor Verzweiflungsgewalt bewahren, – und die berühmte Saudade etwas weiter westlich die Portugiesen.
Im neuen Jahr wird Slowenien seinen Staatsbankrott erklären müssen. Ein echter Treppenwitz der Geschichte, und kein schlechter dazu. Ich kann mich noch durchaus erinnern, dass der jugoslawische Selbstverwaltungssozialismus ja nicht nur wegen seines totalitären Charakters gestürzt wurde, sondern dass es, viel wichtiger noch, massive politische Sezessionsbestrebungen der beiden Teilrepubliken Slowenien und Kroatien gab. Wie im Italien der Lega Nord hatte auch am Balkan der etwas reichere Norden keine Lust mehr mit den schäbigen Brüdern im Süden zu teilen.
Ich habe nicht vergessen, dass der große Südtiroler Grünen-Politiker Alexander Langer [1946-95], ein Prophet des friedlichen Zusammenlebens in Europa, eben auch an dieser Perspektive politisch verzweifelt ist und seinem Leben ein Ende gesetzt hat.
Was haben wir denn historisch erlebt in den letzten beiden Jahrzehnten? Was müsste uns dringend zu denken geben, wenn heute im Nachbarland Ungarn demokratische Rechte in Salamitaktik beschnitten werden? Welche Zeichen stehen auf Sturm, wenn in Großbritannien, Frankreich und neuerdings auch in Deutschland unter dem Titel »Sozialtouristen« gegen die Ansiedelungsfreiheit von Roma in der Union kampagnisiert wird?
Müsste nicht der Jugendsprecher einer Partei als erster im Land sagen können, was in diesen Fällen nottut? Müssten die neugebackenen Volksvertreter den richtigen Weg für den europäischen Kontinent nicht in ihren Adern spüren, oder wenigstens in den Haarspitzen?
Ich sage es so: Wir haben in den letzten Jahrzehnten miterlebt, mit welch ungeheurer Kraft der ethische Säuberungswahn in der nahen und ferneren Nachbarschaft wiederkehrte, – von den schmerzlichen Geschwisterkriegen am Balkan bis hin zum coolen norwegischen Massenmörder, der seine Hinrichtungsschüsse auf wehrlose Ferienkinder mit dem iPod im Ohr synchronisierte.
Erst wenn du die Antwort auf dieses ewige ethno-nationale Fieber Europas kennst, Julian Schmid, hat sich meine Stimme gelohnt.
© Wolfgang Koch 2013
Foto: Martin Juen