vonWolfgang Koch 09.10.2014

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Das 19. Jahrhundert ist als »Epoche der großen Vaterkonflikte« in die europäische Kultur eingegangen. Ein Geistesriese wie Sigmund Freund wäre gar nicht denkbar, ohne die Verwerfungen in der eigenen Familie.

Die Idee zum Ödipus-Komplex, einer zentralen Denkfigur der klassischen Psychoanalyse, verdankte Freud seiner inneren Zerissenheit. Schonungslos wie fast immer gab er zu, wie sehr er seinen Vater verachtete und zugleich bewunderte, dass er ihn überholt, aber nie überwunden hatte.

Bereits in seiner Jugend wählte Freud eine Reihe von Ersatzvätern unter seinen Lehrern; er idolisierte Moses und Oliver Cromwell. Später drückte er sich um die Pflege des sterblichen Vaters, finanzierte aber ein Jahr nach dem Begräbnis, zu dem er nicht erschien, den Grabstein für seinen Erzeuger.

Der österreichische Künstler Hermann Nitsch ist schon in vielerlei Hinsicht gewürdigt worden, der Kathedralen-Charakter seiner Aktionsmalerei und seines Orgien Mysterien Theaters tritt seit 2007 und 2008 in den beiden monographischen Museen Mistelbach und Neapel gut zum Vorschein.

Selten oder gar nicht aber wird der enorme Einfluß gewürdigt, den Nitsch auf Künstlerkollegen nimmt und genommen hat. Ohne in Österreich je einen Lehrstuhl besetzt zu haben, fördert und ermutigt Nitsch seit Jahrzehnten junge Talente, ihren eigenen Weg zu gehen, wie er den seinen gegangen ist: gegen alle Widerstände von Politik, Religion und öffentlicher Meinung.

Legionen von Künstlern und Kunsthandwerkern, von Komponisten und Vergoldern, Tischlern und Filmemachern sind durch Nitschs Weinviertler Schloß Prinzendorf gezogen. Er hat Hunderte von Schönheits- und Wahrheitssuchern mit Worten ermutigt, mit Aufträgen beschäftigt, an Galeristen vermittelt, und Nitsch zögert bis heute nicht, jugendlichen Wagner-Enthusiasten zu erklären, wie er die Idee des Gesamtkunstwerks auffasst.

Vor Dekaden hat die heutige Performance-Ikone Marina Abramović in Nitschs Atelier assistiert, aus einem Körpermodell Heinz Cibulka ist ein Medienkünstler, aus seinem Mitarbeiter Hanno Milesi ist ein vortrefflicher Schriftsteller geworden, der Dekadenz-Anhänger Paul Renner stand in den Küchen der Feste. Für den Filmproduzenten Peter Kasperak, für den in London lebende Regisseur und Künstler Andrea Cusmano – für sie und für viele andere war Nitsch in bestimmten Phasen der eigenen Arbeit eine überragende Vaterfigur.

Soviel Leidenschaft für Nähe und Austausch wirkt in Zeiten, in denen man lieber gefühlsneutral von »Elternschaft« redet als von Vaterpflicht und Mutterliebe, wie eine Extravaganz. Doch auch, wer sich in stillen Stunden für kosmische Zyklen und das Sternebeobachten begeistern kann, muss kein Ignorant des sozialen Lebens und der Geselligkeit sein.

Hermann Nitschs Ziehsohn, Leonhard Kopp, ist unter den Heurigentischen der Mal- und Saufberserker des Wiener Aktionismus in den 1960er und 1970er-Jahren aufgewachsen. Aus dem Jungen mit der nonkonformistischen Kindheit wurde ein angesehener Physiotherapeuth und Podologe in Bad Sooden-Allendorf in Deutschland.

Bis heute ist für diesen Sprössling der Familie in jeder Nitsch-Partitur die Rolle des Akteurs Nr. 1 reserviert. Leonhard Kopp kommandierte die Spielteilnehmer in Prinzendorf und in Neapel, im Wiener Burgtheater, in Kuba und Leipzig. Lässt sich die Weitergabe des promethischen Feuers vom Vater zum Kind irgendwie sinnfälliger darstellen, als in dieser Rollenzuschreibung der Nr. 1 im Lebenswerk des Sechstagemysteriums?

Ich kenne nichts Vergleichbares unter den modernen Vater-Sohn-Beziehungen. Der Tango-Revolutionär Astor Piazzola hat seinen Vater musikalisch im Werk geehrt, Soul-Legende Horace Silver komponierte 1964 einen Song für seinen Vater. Walker Percy und Phillip Roth haben ihren Vätern Denkmale in Romanen gesetzt. Aber welcher Künstlervater, bitte, hat in umgekehrter Richtung seinem Kind derart nobel die Referenz erwiesen wie Nitsch seinem Sohn?

Für Nitsch und seine unerschöpfliche Daseinsbegeisterung bedeutet Kunst Heimkehr in die unverrückbaren Strukturen einer kosmosgebundenen Kultur, deren Herren wir sein sollten. Vom Christengott, der sein Fleisch am Kreuz hinweg gab für die Sünden der Welt, sind wir da ganz weit entfernt.

© Wolfgang Koch 2014

Foto: nitsch museum

 

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