vonWolfgang Koch 20.10.2019

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Der 19. Prosaband des 82jährigen österreichischen Schriftstellers, von dem er behauptet, es sei wohl sein letzter, verzichtet, wie alle anderen Minaturen-Sammlungen des Autors, auf Kapiteleinteilungen und Überschriften. Die Textsplitter, Aphorismen und Bettgeschichten in Pillenform lassen sich aber leicht nach vier Abschnitten zu etwa gleich grossen Tortenstücken unterscheiden:

Geht es im ersten Abschnitt des Buches um Menschen beziehungsweise um das Zwischenmenschliche, die Themen Herkunft und Nachkommen in der panoramatauglichen Aussicht miteingeschlossen, es folgen im zweiten Abschnitt Fauna & Flora, im dritten Stück das Göttliche in christlicher und unchristlicher Gestalt, und zuguterletzt kommen Kunst & Literatur.

Schwer zu sagen, wo Obernosterer mehr glänzt in diesem dichten Archiv der Gefühle und der unverkopften Gedanken, in dem Persönliches und Allgemeines, Abgedrehtes und Intimes, Verborgenes und Verstiegenes so elegant nebeneinander ausharren, dass man das Buch gar nicht aus der Hand legen mag.

Sein Erzähler ist virtuos darin, an der Oberfläche die Abdrücke darunter herrschender Spannungen zu erkennen. Das können Spannungen psychologischer oder mentalitätsgeschichtlicher Art sein, Spannungen zwischen zwei Menschen oder Spannungen zwischen Individuum und Kollektiv. Routiniert und sattelfest führt uns Obernosterer über unentdeckte Pfade auf abschüssiges Seelengelände hinaus, wo er in der Sprache soviel Sinn und Halt findet, dass die Literatur für ihn zu einem Lebensweg geworden ist, wie für seine Nachbarn das Streichen von Gartenzäunen oder das Einmachen von Marmeladen.

Das erzählende Ich ist Zentrum und Bezugspunkt eines nach aussen hin offenen Feldes. Mal dankt dieses Ich den Körperzellen als den leider unsichtbaren Teilkräften des eigenen Daseins für die »Aufrechterhaltung meiner Person«, dann wieder wünscht sich dieses Ich, über die Verstiegenheit der eigenen Jugendjahre lachen zu können.

Schuld & Sühne, Wert & Unwert des Menschen sind wiederkehrende Themen, aber nie hysterisch wie bei der Globart Academy, die heute Schleppergehilf*innen mit Auszeichungen für ihr »Engagement, Menschenrechte und Menschenleben zu schützen« überhäuft. Nein, dieser Dichter ist kein Rettungsclown oder appellativer Pathetiker; er leidet auf ganz bescheidene Weise mit den Zurückgebliebenen und Aussenseitern aller Art, mit den Minderleistern der Gesellschaft, ohne die Mehrheit vom akademischen Ross herunter anzuklagen.

Dabei hat es Obernosterer sicher nicht einfach in der Provinz. Umgeben von heu-, holz- und viehgläubigen Berglern tritt sein Erzähler stets auf Zehenspitzen in die Talereignisse von Hermagor und Umgebung. »Meine sogenannten Bekannten sind wie nächtliches Gelände, dessen Stolpersteine, Hindernisse und Abgründe ich immerhin so weit kenne, dass ich in allfälligen Gesprächen einen Bogen um sie mache.«

Klar, dass auch in diesem Buch wieder die regionalen Druckverhältnisse durch gewisse Personen zutage treten, doch wie Obernosterer »abgenutzte Frauen«, einen Staubsaugervertreter, einen Maurer, usw. vor uns hinstellt, das ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in dieser Genauigkeit und mit dieser Liebe einmalig. Die Bauern leben immer noch heidnisch mit einem »vorgeblendeten Christentum«. Und hören die Leute von einem Lawinenunglück, verstummen sie mitten im Satz.

Obernosterer liest die Sprache der Dinge, er hört den Subtext der Redensarten, die Populistik und die Anmache im Wir-Ton, er riecht die Verwesungsvorgänge in bejahrten Ehen, er spürt die Schwerelosigkeit beim Beten des Rosenkranzes und den Widerwillen der Alten an der Wortwelt, er teilt die beglückenden Illusionen eines Schweines vor der Schlachtung und er imaginiert die Schweigsamkeit der Männer in den Bergen.

Obernosterers Schreibansatz ist mindestens so radikal und optimistisch wie der Peter Handkes: »Ein Thema gibt dann am meisten her«, sagt er, »wenn der Stoff gegen Null geht«. Denn ein gelingender Satz kann quasi nicht irren. Was wir in den Prosa-Minaturen als Inhalt vorfinden, das entfaltet sich ohne Absicht und ideologisches Wollen frei in der Form. Dass Europa »zwar schöne Zahlen hat, aber ein zermürbendes Personal«, dass der Weltenschöpfer die »kluge und nützliche Personalisierung« des Unüberschauberen sei – solche Einsichten ergeben sich allein aus der genauen Spracharbeit des »in sich zerfallenen Rationalisten«.

Auch die Komik scheint bei diesem Autor unergründliche Wege zu gehen: Es gibt eine witzige Fliegenjagd am TV-Schirm, die Selbstdarstellung des »letzten Milchholers« im Dorf, den Anschluss eines Kleinstmobils an einen Herzschrittmacher. Da lacht man über die komplizierte Naivität des Erzählten.

Die lobenswerte Literatur dieses Kärntners ist unter Kennern schon lange ein Geheimtipp. Sie tritt nicht erst in eine Verbindung mit dem Betrachteten, sie hat diese Verbindung offenbar überhaupt nie verloren. Obernosterer erzählt manchmal schwermütig, aber nie zäh. Er verzichtet in seinem 19. Opus auf jegliche Form von psychologischer Drastik; seine Spiritualität bleibt kindlich einfach, hebt nie an zu metaphysischen Spekulationen; und seine Meinungen sprechen stumm hinter den Sätzen her.

Den Schrecken der Apokalypse etwa darf man sich, laut dem dazugehörigen Aenigma, nicht zukünftig vorstellen – nein, der Schrecken der Apokalypse ist immer gegenwärtig zu denken. Auch das liegt wieder fernab von der verschossenen Wut und dem giftigen Moralin der kollektiven Simultan-Masturbier-Orgie unserer Klimaschützer*innen.

Obernosterer unterscheidet zwei psychologische Menschentypen – die überwältigende Motoriker*in und die von Eindrücken schier erdrückte Sensoriker*in. Diese Typen werden in seinem Weltbild von zwei soziologischen Menschenarten – niedere Herkunft, höhere Herkunft – gekreuzt, so dass sich daraus vier Grundmodelle der Freude und des Jammers ergeben. »Die Unzufriedenen«, deduziert Obernosterer aus der Überschneidung seiner Beobachtungen heraus, »die Unzufriedenen kommen stets aus den angenehmen Verhältnissen.«

Es mag eine grosse Schicht von Jahren zwischen dem Krawattenträger-Buch und Obernosterers ersten Miniaturen von 1975 (»Ortsbestimmung«) liegen. An der Wärme des Blicks auf sich und auf andere hat sich wenig geändert. Eine heilsame Altersklugheit ist hinzu getreten, zum Beispiel in der Bemerkung: »Ein Gutteil dessen, was in Worten enthalten zu sein scheint, besteht aus Spiegelungen dessen, der sie verwendet.«

Obernosterers Bild und Praxis von Literatur ist so ziemlich das würdigste, was man heute am Buchmarkt finden kann. »Das Bestreben der Literatur geht dahin, die in der Realität vorhandenen Urteile und Bewertungen rückgängig zu machen und den Leser dorthin zu führen, wo es keine Reihungen gibt.«

Erzählen Sie das mal einem Nobelpreiskomitee.

© Wolfgang Koch 2019

Engelbert Obernosterer: Auch Krawattenträger sind Naturereignisse. Miniaturen, 160 Seiten, gebunden, Lesebändchen, ISBN: 978-3-99029-358-4, Wieser Verlag, Klagenfurt/ Celovec, EUR 19,95

Fotos: Manfred Schluder (Ausschnitt), Inge Lasser

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