vonWolfgang Koch 19.06.2020

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

Mehr über diesen Blog

Er hätte ein zweiter Lajos Hevesi (1843-1910) werden können, der den Secessionskünstlern um 1900 in der Wiener Presse den Boden planiert hat; oder ein zweiter Peter Gorsen (1933-2017), der als Ästhetik-Professor der ungestümsten Aktionskunst in Wien und München den Weg bereitet hat, wäre Dietmar Steiner je auf eine Gruppe entschlossener Avantgardisten gestossen, die ohne Furcht vor dem nächsten Tag bereit sind, mit vollen Händen im Leeren zu schöpfen.

Aber Künstlernaturen haben es auf Baustellen wahrscheinlich schwerer als anderswo, die Welt als perplex zu empfinden. Architekturschaffende sind überall das Schlafmittel jener Tradition, die sich am Morgen als Innovation ausgibt und am Abend mit Selbstmordgedanken zu Bett geht. »In den letzten Jahren«, schrieb Steiner 2016, »haben die Universitäten zu viele Architekten produziert, die nur mehr als Dienstleister am Markt erfolgreich sein wollen«. Ob in Boygroups, in Duos oder als Teamwork organisiert – überall stellen die Architekturbüros den Dienstleistungscharakter des Bauens über den künstlerischen Akt.

Der öffentliche Raum ist zu einem Ort für eine Vielzahl gleichzeitiger, naturwüchsiger Prozesse herabgesunken; er wird dabei zu einem Raumprogramm wohldefinierter, räumlich voneinander abgegrenzter Funktionen zerlegt und eingeengt. Der technische Beitrag von Architekt*innen entspricht möglichst unterwürfig den Aufforderungszwängen des exakt definierten Gestaltungswillens.

Bauen heisst heute das maximale Potential an Informationsvermittlung herstellen, das nur noch aus Waren und verkehrsleitenden Signalen besteht. In der Sphäre der Architektur wird am deutlichsten, dass der ökonomische Gebrauchswert die technologische Aneignung des Lebendigen ist, ja Vernichtung von Lebensautonomie und Qualifikation überhaupt.

Steiner sah das alles sehr klar, denn er begann seine steile Laufbahn als Industriegeländebesetzer in Wien. Seine Studentengeneration entwickelte in den 1970er-Jahren ein sehnsüchtiges Verhältnis zum Vorkriegsmarxismus der Arbeiterparteien und kultivierte ihr revolutionäres Sentiment mit Rettungsversuchen der nutzlos gewordener Fabriksbauten aus dem 19. Jahrhundert. In Wien gerieten der Reihe nach der ehemalige Inlandsschlachthof der Arena, das WUK in der Währingerstrasse und andere Relikte des industriellen Fortschrittsglaubens ins Blickfeld der jungen Stadtgesellschaft.

Steiner koordinierte und verhandelte vier Monate lang die selbstverwaltete, freien Kulturszene in den zum Abriss bestimmten Backsteinhallen der Arena, und er schlug nach der Schleifung des Hauptgeländes noch tiefere Pflöcke ein, denn von da an setzte er immer ungeduldigere Sätze auf hartnäckiges Papier.

Dietmar Steiner übte als Publizist in feierlichem Ernst Widerspruch gegen die Trennung von Hochkultur und Alltagskultur. Er wuchs hinein in internationale akademische Theoriedebatten. Die Lieblingsorte seiner visuellen Entdeckungen: Barcelona, Mailand, später Polen. Nach der Wende rüttelte er die Wiener Sozialdemokraten (Bürgermeister Helmut Zilk, Kulturstadträtin Ursula Pasterk, Planungsstadtrat Hannes Swoboda, Unterrichtsminister Rudolf Scholten) soweit aus ihrer Starre im Schlafsaal, dass sie 1992 die Gründung des Architekturzentrums Wien (Az W) beförderten.

Seit diese Institution in Blüte steht, haben die Nachlässe von Architekt*innen und Designer*innen einen lebendigen Sammlungsort, die Studierenden ein Diskussionsportal, die Architektur-Liebhaber brauchbare Stadtexkursionen und die Kinder Lego-Workshops in den Ferien. Steiner und sein Team nahmen Einfluss auf die Nutzung in dem zum Museumsquartier (MQ) umprogrammierten Messe-Palast der ehemaligen Hofstallungen – nicht immer so erfolgreich, wie man im Az W dachte, denn seit damals hat das Wiener Kultur- und Geistesleben im MQ auch eine Reihe von akustisch katastrophalen Veranstaltungshallen in historischen Gewölben zu ertragen, bautechnisch imposant, aber vollkommen ungeeignet für Sprechveranstaltungen.

Steiner war ein gewitzter Weltrechercheur und ein Energiebündel mit Ansteckungskraft. Die Ausstellungen des AzW, auch das ist sein Erbe, sind bis heute didaktisch und technisch übermotiviert. Alles muss ständig anders als in anderen österreichischen Ausstellungshäusern präsentiert werden. Steiner sah seine Umgebung in ständigere Transformation, stets in der aufgeregten Erwartung, dass gerade das Ende naht und dann etwas Neues kommt.

Der klapprige alte Kulturgaul an der Donau erhielt von diesem Mann ein paar dringend benötigte Modernitätsspritzen. Drei Jahrzehnte lang schwitzte der Hutträger mit dem Charme und der Liebenswürdigkeit einer grossen Persönlichkeit seine baustofflichen und architekturtheoretischen Ideen aus. Dabei geriet ihm nichts zu einem Denksystem, einer Lehre, aber alles zu einem Lebensgefühl, das die jeweils lähmende Gegenwart dementierte.

Selbst am Ende noch, 2016, kulminierte sein Siebentagebuch Steiner’s Diary in einen Katalog mit inflexiven Buchteilen und ausklappbaren Reprints. Wozu »Humanität« und »Verschönerung« auf die Fahnen malen? Wozu öffentliche Aufmerksamkeit und Resonanz generieren? Urbane Biotope spielten doch nur eine Stadt. »Die Quintessenz der Erlebnisarchitektur«, schrieb Steiner 1993, »ist das Konzept von Disney World«.

Steiner dachte, dass es unterhalb der Repräsentation in der Architektur eine Ebene der Spannungen geben soll, eine Ebene der Kraftfelder und -linien, die von den Sensationen, den Empfindungen in Schwingungen versetzt werden. Durch sie konstituiert sich das Sprach- und Bildmaterial zu den Körpern und deren Umgebung.

Österreichs Bundeshauptstadt war für Steiner eine »authentische alte Stadt«, aber er zeigte nicht das geringste Interesse, deren »kulturindustrielle Einzigartigkeit« vor Fremden auszubreiten. Was Steiner interessierte, das waren die Brüche und Widersprüche der Stadt, der unvollendete Otto Wagner, das Provokante am Wittgensteinhaus, die Beharrlichkeit der Kleinsiedlerkultur. Künstlerhäuser stellte er grundsätzlich unter Kitschverdacht. Richtig erschien ihm das Zusammenschauen, Kontextualisieren und Gendern.

Steiner ging selbst im Ruhestand nicht einfach in sein Archiv, um dem Publikum noch einmal Früchte seiner überquellenden Produktion vorzulegen, nein, er »betrieb im eigenen Weltbild Archäologie«, wie er sich ausdrückte, er sah in seinem Textberg nach drei Jahrzehnten »eine Ansammlung von zufälligen Ablagerungen«, die eine Selbstverortung in grösseren Zusammenhängen erlauben könnte.

Zufallsprodukte waren seine Texte natürlich nie. Hier muss man ihm deutlich widersprechen. Sie waren politische Kampfmittel in prickelnder Erregung, Thesenpapiere in den innerarchitektonischen Debatten, impressionistische Reiseberichte, es waren Flüche, Telegramme, Grabsprüche. Und mit diesen Äusserungen wäre er locker Hevesi II oder Gorsen II geworden, wären dem Geschäftsmodell dieses närrischen Briganten nur ein paar Bau-Berserker, Genossenschaftslenker und Investmentbanker gefolgt. Aber solche Exemplare mit der Schneeflocke in der Hand und dem Haus auf dem Kopf waren selten.

© Wolfgang Koch 2020

Foto (Ausschnitt): Heribert Corn, © Architekturzentrum Wien

Kunstuniversität Linz (Hg.): Steiner’s Diary. Über Architektur seit 1959. Essays, Interviews, Analysen, Vorlesungen. Redaktion Roland Gnaiger, 400 Seiten, deutsch/ englisch. ISBN 9783038600329, Park Books 2016, 51 Euro

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/wienblog/2020/06/19/dietmar-steiner-oder-der-mann-mit-dem-haus-auf-dem-kopf-1-3/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert