vonWolfgang Koch 29.06.2020

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Würden wir Menschen auf einem Würfel wohnen, liefen wir sicher nie im Kreis. Das zu beweisen ist kein schlechter Plan für einen Roman, der anstatt philosophische Letztbegründungen zu liefern, den kaum begründeten Erkenntnisoptimismus seines Autors auflöst in Schaufelder und Reflexionen der Gegenwart, in Beobachtungen und Bonmonts, wie sie jeder Höhergebildete jeden Tag in der blauen Stunde einer europäischen Grossstadt machen kann.

Lucas Cejpek vertraut uns in seinem neuen Roman einer eher unsympathischen, kontur- und farblos Figur an, die in ihren tagebuchartigen Aufzeichnungen wenig von sich selbst preisgibt. Ein dürftiger Mann vorgerückten Alters, der, soviel lässt sich sagen, in der Joanelligasse in Wien wohnt, der für einige Jahre ORF-Mitarbeiter gewesen ist und der über ein beträchtliches kulturgeschichtliches Wissen verfügt.

In einer Art lodernden Selbstbestreitung durchstreift dieser Ich-Erzähler unablässig die Vernissagen, Kinovorstellungen, Mode-Installationen und Lesungen seiner Stadt, vorgeblich auf der Suche nach der Selbstvergeistigung, ein wenig aber auch, um Exemplare des Gegengeschlechts mit violetten Haaren und dünnen Blusen auszuspähen.

Der in seine DNA eingedrehte Mann hört aufmerksam zu, wenn Kunstschaffende ihre Arbeitsweisen erklären, er lauscht still, wenn Sitznachbarn im Kino flüstern, er freut sich kindlich, wenn sich Bekannte und Freunde an seine längst zurückliegenden Interessen erinnern. Er sucht Clubs und Bars als besondere Orte auf, um seine Notate fortzuführen. Er hat viel übrig für Listen und für Titel, für Jahrestage, Drehbücher und Interviews, für Flohmärkte, Galeristinnen und Gemeinschaftsausstellungen.

Viel mehr an Persönlichem erfahren wir nicht über diesen Wien-Bewohner, er wird von Cejpek mit keiner echten Psychologie ausgestattet. Denn diese namenlose Romanfigur geht vollkommen auf in dem Informationsgebirge, das sie vor uns hinklotzt und aus dem sie auch bei schönstem Wetter und bei klarster Sicht nicht mehr herausfindet. Der Erzähler verschmilzt hundertprozentig mit den Fussnoten von Fussnoten, die er anlegt, er geht so zielsicher hinter Datenbäumen in Deckung wie Schaulustige beim Champagnerschütteln unter dem Siegerpodest.

Das Poetische heisst für Cejpek Sammeln, heisst sich fremde Kenntnisse und Erfahrungen Einverleiben. In diesem Prozess arbeitet sich auch sein Held am Neuen und Unbekannten ab. Selten vermittelt sein sorglos vor uns erjagdtens Wissen etwas Schätzenswertes, das man in den nächsten Tag hinein mitnehmen möchte. Nur an den wenigsten Stellen erfahren wir von diesem Umkreisungspezialisten Bohrendes oder Erschütterendes.

An einer Stelle zum Beispiel erinnert er an einen Doppelgänger seines Autors Cejpek: den vergessenen deutschen Schriftstellers und fragmente-Verleger Rainer Maria Gerhardt, den die literarische Avantgarde um 1950 herum in seinen Bann gezogen hat. Dieser wohnungslose Dichter und transatlantische Literaturheilige aus Freiburg resignierte bereits vier Jahre später im Alter von 27 an den Verhältnissen, die er mit seiner Produktion vorfand.

So etwas würde dem Wiener Kulturlauscher in diesem Buch natürlich nie einfallen, für einen Suizid ist er viel zu beschäftigt mit dem Sammeln und Vergleichen von Bildern und Sätzen, mit seinen Wühlereien im babylonischen Kulturbau, dessen Allegorien, Merksprüche, Bildkonzepte und Stilfiguren ihn bewohnen wie Pickel ein Sängerknabenkonvikt.

Ergreift denn in Cejpeks Umkreisung ein Intertextueller das Wort am Rand der letzten Klippe? Oder übt da einer den Blick von den Anhöhen diskursiver Bildungs- und Sprachmacht nach unten?

Jedenfalls tauchen die gewöhnlichen Menschen in diesem Verweislabyrinth nur als Hindernisse auf, sie versperren unserem Flaneur den Weg zum nächsten unvergleichlichen Eindruck eines Werks oder einer Zitierstelle. Die Durchschnittsmenschen bilden eine Phalanx aus Marathonläufern oder Fussballfans, sie werden bei Unwetter im Park von Fichten erschlagen, der Protagonist nimmt sie bloss aus den Augenwinkeln wahr, weil sie keinen direkten Nutzen haben für seine Umkreisungen des Wahren, Guten und Schönen.

Der rastlose Kulturkonsum, den der Protagonisten betreibt, dient der Selbstbesinnung und der Selbsterkenntnis, kann aber allenfalls als Selbstbeweihräucherung durchgehen. Statt wirkliche Lernbereitschaft zu zeigen und die Tugendhaftigkeit zu preisen, verzaubert der Mann sich durch jene Mechanismen der intellektuellen Selbstversicherung, die das Denken lähmen.

Wir bekommen es in diesem Buch mit einem akademisch geübten Adabei und seinen langen Assoziationsketten zu tun – mit einem in sich gekehrten Wesen voller Möglichkeiten, das in der Hypertext-Technik ganze Gebirgszüge von Wissensfragmenten anschleppt und sie mit den Selbstaussagen von Kunstschaffenden zu einem Flickwerk der Selbstvergeistigung zusammenklebt.

Diese unter Sinnwünschen ohne sichtbare Ordnung zusammengestellten Fakten führen zu einem lähmenden Relativismus der Aussagen und letztlich zum Nihilismus. Während Gustav Flaubert 1881 in seinem satirischen Schelmenroman Bouvard und Pécuchet das Bildungsbürgertum lächerlich machte, indem er seine Protagonisten den Versuch unternehmen lässt, sich anhand von enzyklopädisch angeeignetem Wissen einen Platz in der feineren Welt zu verschaffen, bleibt Cejpeks Bildungsspiesser bis zur letzten Seite ein ungebrochener Enthusiast und Kulturaristokrat.

Der Mann wirkt vor seiner Sternhimmeltapete nie in sich gekehrt genug, um ihn interessant zu finden, und nie befremdlich genug, um dauerhaft über ihn lachen zu können. Umkreisung fehlt schlicht der pessimistische und düstere Vorsatz des Antibildungsromans.

Konstellative Montage? Kugelförmige Dramaturgie? – Nun, in dem »Auge« genannten ersten Teil des Buches dreht sich alles um die Beobachtung des Scheibenförmigen und des Runden: im Kreisverkehr, in der stehende Klangfläche bei György Ligeti, in der flachen Scheibe aus Partikeln des Saturnrings und in vielen anderen Dingen – bis wir nach sechzig Seiten vollkommen überraschend erfahren, dass sich der Erzähler die ganze Zeit über auf eine Augenoperation in einer Ambulanz vorbereitet hat.

© Wolfgang Koch 2020

Fotos: Portrait des Autors (Ausschnitt), © Armin Bardel 2020; Luc Hand © Lukas Cejpek 2017

Lucas Cejpek: Umkreisung. Stadtroman, Weltgedicht, All-Essay. 192 Seiten; ISBN: 978 3 85449 547 5, Wien: Sonderzahl 2020, Euro 22,-.

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