vonWolfgang Koch 01.07.2020

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Lucas Cejpek ist ein österreichischer Autor ohne Vergangenheitsverfallenheit und Schuldobsession, was im Schatten von Bernard, Bäcker und Jelinek schon für sich einen beträchtlichen Wert darstellt. Seine literarischen Arbeiten untersuchen freihändig die Selbstmodelle der Gegenwart, ohne die Tatsache je aus den Augen zu verlieren, dass Worte, Sätze, Sprache das Fundament unserer kulturellen Verantwortung sind.

Der zweite Romanteil trägt die Bezeichnung »All« und führt zu einer ganz anderen Pointe als die ersten 95 Seiten. Wieder erweisen sich die Umkreisungen der Objekte als Abschweifungen, wieder stossen wir auf Listen, wieder googelt Cejpeks Erzähler Informationshäppchen und befüllt damit sein Tagebuch.

Diesmal umkreist er thematisch die geometrischen Elemente Punkt (inklusive Nullpunkt, Zero) und Strich bzw. Linie, wobei ersteres auf Kandinsky trifft und zweiteres die Kunst von Pollock und Long streift. Natürlich kennt ein so angelpunktloser Im-Kreis-Geher wie dieser Erzähler Archimedes nicht, und auch nicht den Ernst Jünger von 1951.

Dafür zieht eine endlose Prozession lebender und toter Kulturchaffender am Leser vorbei. Chatwin, Kurosawa, Spinoza, Verne, Rodin, Robbe-Grillet, Conrad, Heidegger – keine Seite ohne grosse Namen. Von Chris Marker hüpfen wir zu Hitchcock, von Sebald zu Waldheim, von Perry Rhodan zu Godard, von Hugo von Hofmannsthals liederlosen Augen zu Palladios auf schöne Aussichten abgestellter Villenarchitektur, vom Schauen Gottes zur Fixierung der Angebeteten (»Wenn ich Dich anschaue, kommt mir der Gedanke, dass Dein Blick spricht«).

Cejpek setzt sich gerne mit Kunst auseinander, weil er in ihr Modelle der Wahrnehmung und des Weltzugangs diskutiert sieht. Bei seinem Protagonisten führt das selten zu bildphilosophischen Einsichten, der Umgang mit Kunst klebt beharrlich an der Oberfläche. Bei Vernissagen fragt der Erzähler seine Gesprächspartner nach dem Lieblingsbild in der gezeigten Ausstellung; der Mann sammelt Autogramme, seine kosmische Empfingsamkeit wird mit dem Kosmonauten Juri Gagarin erstickt.

Im Mai 2017 verwandelt die Herrenphantasie das Auge mit der blauen Iris zwischen den Beinen einer Frau »in eine leicht geöffnete, rosarote Rose«. Auf seinem 190-Seiten-Ritt mit solchen Vereinfachungen und Überspitzungen von Bildern übt der Erzähler die Rede über das vermeintlich Erlernte viel schneller ein als ein Lernprozess vonstatten gehen kann. Er gaukelt sich bereits ein Wissen über Erfahrungen vor, die eigentlich erst zu machen wären – und die, wenn es denn wirklich Erfahrungen sind, diese ganze eingeübte Rhetorik auch unterbrechen müssten.

Cejpeks Kulturlauscher späht durch die Augen anderer nach »unbekleideten Weibspersonen« und er tapst in das grösste kugelförmige Gebäude der Welt in Kasachstan. Wir erfahren, dass Derwische im Tanz die Zeit zurückdrehen, und auch einiges, was schlicht falsch ist.

Der Ich-Erzähler meint Erfahrungen auf seiner Odyssee zu machen und Erfahrungen mitzuteilen. Doch eine Einsicht aus der psychoanalytischen Praxis besagt, dass insbesondere dann, wenn ein Analysand meint, unvermittelt selbst angeben zu können, was der Sinn oder die Bedeutung einer Erfahrung sei, Skepsis geboten ist. Man glaubt, in der weihevollen Situation des Kulturgenusses etwas zu lernen – doch man übt nur ein Vokabular ein, das keine andere Wirkung hat als Worte, Sätze, Redeweisen von einer persönlichen Verantwortung freizusprechen.

Ich habe nichts gegen eine Literatur, die mit realen Faktenlagen operiert, vorausgesetzt die Fakten stimmen. Cejpek lässt seine Figur aber immer wieder arge Schnitzer begehen. Dass es sich bei der heutigen Peterkirche um »die erste Kirche von Wien« handelt, ist alles andere als gesichert. Ob ihr Vorgängerbau, und nur dieser kommt in Frage, der älteste Kirchenbau Wiens war oder doch die archäologische Entdeckung eines Kirchenfundaments in Heiligenstadt, gilt in der Fachwelt als umstritten.

Auf Seite 52 behauptet der Erzähler, wir, also er und die Leser, wüssten nicht, was die Absicht des manieristischen Malers Parmigianino bei seinem »Selbstbildnis im Konvexspiegel« gewesen sei. Das mag für den namenlosen Erzähler zutreffen, die Kunstgeschichte aber weiss das ganz genau: Francesco Mazzola, wie der Maler und Radierer hiess, fertigte damit eines jener virtuosen Werbebilder an, das an die europäischen Höfe versandt wurde; eine im 16. Jahrhundert übliche Praxis, um mögliche neue Auftraggeber zu finden.

Der Erzähler übernimmt immer wieder Künstleraussagen, die auf einen bestimmten Effekt zielten, ohne genauer hinzusehen. So stimmt er Sergej Eisensteins falscher Ansicht bei, ein Buch sei von zweidimensionaler Materialität (um sich Bücher als drehende Kugeln vorzustellen). Aber die spezifische Medialität des Buchkörpers, seine technische Herstellung wie seine Handhabung, sind eminent dreidimensional. Bücher sind als ein zu blätternder Buchraum zu denken. Die Falte, technisch Falzung genannt, ist ihre basale technische Operation.

Cejpeks Bildungsheld befragt die Wikipedia; Czeike und Dehio sind ihm schon zu mühsam. So übernimmt er etwa die falsche Behauptung, der Name der Schwertgasse stamme von einem religiösen Hauswappen in der Gasse, nämlich dem ehemalige Innungshauses und der Herberge der Taschner, später Hauptsitz der Freimaurer. In Wahrheit war die ganze Gasse einst die wichtigste Betriebsstätte der Schwertfeger; und von daher trägt sie auch ihren Namen.

Das Risiko einer jeden Umkreisung liegt eben in der hohen Anzahl der Punkte, die der Trabant auf seiner Bahn berührt. Vielleicht ist diese Bewegung doch nicht immer die ideale Methode. – Wer sagt denn, dass das ganze Universum sich im Kreis bewegt? Nur weil sich Planeten, Galaxien, Sonnensysteme etc. in kreisförmigen Bahnen bewegen, muss es doch nicht das ganze Universum auch so machen.

Am Ende des Buches bricht Cejpek mit der Fülle des Geplappers seines Helden und greift auf die gute alte Ordnung des Alphabets zurück, um über vier Seiten noch einmal alle realen Personen, die durch dieses Buch geistern, aufzulisten. Das Personenverzeichnis wirkt wie eine Distanzierung des Schriftstellers von seinem möglichen Alter Ego; und damit es kein simples Who-is-Who wird, sondern die Materialität der Namen diesseits des Textes virtuell hervortreten, fehlen nun Beistriche und Seitenanhaben.

In was für einer Sprache ist Umkreisung geschrieben? In einer verständlichen und trockenen Erzählsprache. Ohne Frage finden sich in Cejpeks neuem Stadtroman einige Sätze von makelloser Schönheit:

»Neben der Galerie am Stadtpark leuchtete der Schriftzug elektro weiß im Schaufenster eines Geschäftslokales« (Seite 16)

»Als ich im Internet nach nichts suchte, stieß ich im Duden auf einen Schuh« (Seite 37)

»Eine Drehbewegung erfaßt Schreibtisch, Papier, Bücher und Fotografien der Freunde, das Fenster und die Bäume, und verschmilzt alles zu einem farblosen Ring, der mich umschließt« (Seite 52)

Dazu kommt eine melodische Beschreibung von Pierre Soulages‘ schwarzen Bildfeldern am Beginn des zweiten Abschnitts. In der Regel aber lässt einen die Sprache des Buches doch unbefriedigt zurück. Weil sich alles um die Verkettung der Motive (Kreis, Scheibe, Punkt, Linie) dreht, klingt das Dargelegte häufig nach den Wikipedia-Einträgen, die ihm zugrunde liegen. An anderen Stellen tönt die Sprache wie in den Zeitungsartikel der liberalen österreichischen Tageszeitung Der Standard, deren Redakteure und Redaktricen ihre Sätze neben unterwässerten Tulpen in die Butterfly-Tastaturen ihrer Laptops mugeln.

Der in Graz aufgewachsene Cejpek emigrierte mit 34 nach Wien und fand hier weitgehend mit der Gebrauchssprache der Qualitätspresse sein Auslangen. Erstaunlicherweise sprechen mich seine Texte mehr an, wenn er sie in seiner ruhigen und überlegenen Art selbst liest. Dann folgt man dem verschachtelten Pfad, den seine Figur in das Wissenslabyrinth schlägt, durchaus mit Vergnügen.

Ich schliesse aus diesem Widerspruch zwischen Lesen und Vorgelesenbekommen, dass Cejpek vermutlich ein idealer Hörbuch-Schriftsteller ist. Und es gibt ja auch schon mehr Hörspiele und Gesprächsbücher als Romane und Essays aus seiner Produktion. Zufall kann der akustische Erfolg dieser Literatur wohl keiner sein.

© Wolfgang Koch 2020

Fotos: Portrait des Autors (Ausschnitt), © Armin Bardel 2020; Emona, © Lukas Cejpek 2018

Lucas Cejpek: Umkreisung. Stadtroman, Weltgedicht, All-Essay. 192 Seiten; ISBN: 978 3 85449 547 5, Wien: Sonderzahl 2020, Euro 22,-.

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