vonWolfgang Koch 25.08.2020

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Für seinen Beitrag zur documenta 5 hat der unvergessene Ausstellungskurator Harald Szeemann 1972 den Begriff der »Individuellen Mythologie« geprägt und dafür viel Applaus geerntet. Der Ausdruck war ihm neun Jahre davor bei der Einrichtung des Werkes von Étienne-Martin in der Kunsthalle Bern eingefallen, wo der Franzose mit seinen raumgreifende Plastiken und Objekten vertreten war. Was hat Szeemann in diesen Plastiken gesehen, die man »Demeures« (Behausungen) nannte und die auch so aussehen wie Termitenbauten für Krankheitsdämonen und Elementargeister, die am Boden hocken wie zerschmolzene Steinsphinxen oder aufragen wie Modelle für Niedrigenergie-Hochhäuser in einer fernen Galaxis?
Szeemann bemerkte 1963, dass der Künstler die Grossskulpturen in »internen« Plänen miteinander verbindet und ein persönliches Vokabular zu ihrer Lokalisierung in seiner Erfahrungswelt verwendet. Szeemann erkannte, dass da ein Bildhauer seinen subjektiven Blick auf das Material hin zu einer privaten Mythologie erweiterte und aus seinem künstlerischen Rückzug auf Formen des Alltags, auf leicht zu Beobachtendes und auf Privates neue Welten entstehen liess, die der Sakralität eines gotischen Kirchenraumes oder dem magische Land Oz im Kindermärchen Der Zauberer von Oz um nichts nachstanden.

Es gab in der Nachriegskunst offenbar neue Druiden, es gab alles mit allem verbindende Orphiker*innen, die Religion, Wissenschaft und Volksglauben wie einen nassen Pelz abschüttelten, um sich ihre eigenen intimen Kosmologien mit Wunderkammern zu zimmern, für die sie allein, und sonst niemand, die Schlüssel besassen. Die individuellen Mythologen verfolgten ganz verschieden Strategien: das reicht vom Sammeln von Gegenständen oder Textzitaten, wie bei Armand Schulthess, über die Wetterphilosophie des Jürgen von der Wense bis hin zum Fantasiegarten »Little Sparta« von Ian Hamilton Finley in Schottland; der elastische Begriff umfasste die minimalistischen Aktionen von James Lee Byar ebenso wie die »ad-Welten«-Installation von Viktor Rogy in Österreich.

Klar, dass die Rezeption dieser Kunst, mit ihrem ganzheitlichen Zugriff auf das Leben, die Werkzeuge von Archäologie und Ethnologie notwendig machte, damit das Geschehene für Dritte erschlossen werden konnte. Die Kunstbetrachtung der individuellen Mythologien wurde zu einer Spurensuche, und hier kommt nun Paul Albert Leitner von der Seite ins Spiel.

Dieser österreichischer Autorenfotograf war schon vor zehn Jahren ein international anerkannter Kunstschaffender, der Wien als sein Basislager nutzt. Er ist 2010 als Staatspreisträger für künstlerische Fotografie geehrt worden; sein Werk ist in der bedeutendsten europäischen Fotosammlung, nämlich der Fotosammlung Wintherthur, vertreten.

Leitner ist aber nicht nur ein ausgezeichneter Street Photographer, er sammelt auf seinen Ortsbegehungen auch weggeworfene Pizzakartons und Verkehrsabsperrungen, er kramt Zeitungen aus Containern hervor und greift bereitwillig nach Werbezündhölzern, er verfasst Texte und lässt in seinen Ausstellungen auch schon mal Musik hören. Leitner nutzt also auch die klassischen Strategien der Aktionsforschung und der journalistischen Recherche in seiner Arbeit – und er ist immer bestens informiert, wie seine besonderen Sujets von Kollge*innen vor ihm angepackt wurden.

Wie viele Künstler*innen gefällt er sich in der Vorstellung, auch er stricke bei dieser multimedialen Arbeit an einer Privatmythologie. Doch Leitner ist kein spinnerter Welterschaffer, kein Baumeister eines neuen Jerusalem, er wandert nicht in Labyrinthen, um sein Selbst von der Welt abzukapseln. Er kreiert in seiner Arbeit nur eine einzige Figur: nämlich sich selbst. Also den Mann, der spazieren geht und der gelegentlich stehen bleibt und das Herzzerreißende der Dinge einfängt. Ich rede von einer charakterlich ausgeprägten Künstlerfigur, die oft ganz unauffällig daherkommt: als kleine staubige Gestalt in den Strassen von Dakar, als Sonnenbrillenträger hinter der Schreibe eines vollklimatisierten Botschafter-BMWs, oder als Adabei im Ellenbogenkampf am Eröffnungsbuffet, usw.

Leitner zeichnet keine Parallelluniversen, er türmt nicht das ungemachte Bett, die benutzten Kondome und die blutverschmierter Unterwäsche zu Altären auf, wie das die britische Künstlerin Tracy Emin macht; er hängt keine Zitate an Bäume, um eine Bibliothek in den Wald zu pflanzen. Leitner verfolgt nicht das Ziel, mit der Welt oder der Wahrheit ein Ende zu machen. Seine Kunst ist eine Poësie des Träumens während des Wachens. Seine Fotomotive gleichen häufig subtilen Traumschlaf-Zuständen: wir sehen auf seinen Bildern glänzendes Frauenhaar und gähnend leere Swimming-Pools, er fotografiert humpelnde Hunde und sich selbst immer wieder in seinem kanarigelben Reiseanzug.

Leitner ist ein obsessiver Dokumentarist; ein Forschungsreisender des visuellen Denkens; ein Selbsterzähler, der seine Methode zur Identitätsstärkung verwendet. Individuelle Mythologien wie die Weltmaschine im steiermärkischen Kaag sind durch ihre bildnerische Formulierung mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit verknüpft. Der Bauer Franz Gsellmann hat ein Leben lang an diesem Geheimnis in seinem Schuppen herumgeschraubt, nachdem er einen Tag lang das Atomium in Brüssel besucht und darin das alles überragende Signum seiner Epoche erkannt hat.

Als Rezipient fühlt man sich leicht verbunden mit so einem Mythenschöpfer, man wird selbst zum Teil seiner Fantasie und zum Teil eines Ganzen. – Leitners Schaffen steht solchen Totalkunstwerken nur nahe durch die kraftvolle Selbstverständlichkeit, mit der er an der fotochemischen Analogfotografie festhält und durch die Ausdauer, mit der er Fundobjekte, für die er gar keinen Platz hat, nach Wien schleppt. Seit vier Jahrzehnten erschafft und verteidigt er konsequent einen künstlerischen Freiraum, in dem das sichtbare Werk erst entstehen kann. Er behauptet das Eigene gegenüber dem Fremden und setzt sich an die erste Stelle, wenn er die Erde autobiographisch erkundet. Es stimmt schon, auch sein geistigen Raum entsteht, indem er als Einzelner jene Zeichen und Signale setzt, die ihm seine Welt bedeuten. Und doch ist seine Position eine andere als die der individuellen Mythologien.

© Wolfgang Koch 2020, Fotos: Marika Rakoczy

 

Ausstellungseröffnung von PRIVATE VIEWING 07

samstag 29. 08. 2020 von 15:00 bis 19:00

studio kleinlercher/kosai

gebrüder lang-gasse 14

1150 wien

ausstellungsdauer 30.08. bis 06.09.2020

nur nach voranmeldung

0660 7388015
tokyo@kuspace.org
www.toni-kleinlercher.com

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