vonWolfgang Koch 26.08.2020

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Formal steht Paul Albert Leitners Arbeit den Erschliessungsmethode der individuellen Mythologien näher als den Mythologien selbst. Er sichert Spuren, er arrangiert vorgefundene Objekte, er versucht der grossen Unordnung und Konfusität, die er in der Welt vorfindet, eine eigene Ordnung gegenüberzustellen. Das ist meiner Ansicht nach der wichtigste Punkt. Mit den Ordnungshunger lassen sich Leitners Schöpfungszustände und die Ziele seiner Arbeit besser beschreiben, als mit einer »grossen Abenteuerfahrt der Fantasie«, mit dem »Traum von der Universalbibliothek« oder mit dem »Totalkunstwerk aus dem Reisekoffer«.

Der Ordnungshunger unserer Epoche ist gewaltig. Die Entdeckung des unendlichen Universums hat eine rastlose Suche nach dem Fixpunkt in der modernen Metaphysik nach sich gezogen. Gibt es einen Mittelpunkt des Universums? Nein, weil es unendlich ist; das Zentrum schweift überall umher. Damit es einen Mittelpunkt gäbe, müsste das Universum geschlossen sein. Da es unendlich ist, gibt es leider keinen Fixpunkt. In der paradoxen Logik eines Künstlers unternimmt Leitner trotzdem eine Suchexpedition nach diesem unmöglichen Fixpunkt in der Kunst.

Was machen Sie, wenn sie sich beim Wandern im Wald verlaufen haben und nicht mehr weiterwissen, wohin, weil sie sich nicht orientieren können? Der Philosoph René Descartes hat in seinem berühmten Discours de la méthode (1637) folgenden Vorschlag gemacht: Laufen Sie nicht hin und her, bleiben Sie auch nicht einfach stehen, sondern schlagen Sie gerade bei Unkenntnis des richtigen Weges eine beliebige Richtung ein und verfolgen Sie diese möglichst unbeirrt. Also einfach immer gerade aus gehen. Descartes empfiehlt die Entschlossenheit, einmal bei seiner Entscheidung zu bleiben, als den goldenen Weg zur Lösung der Probleme.

Natürlich hat der Philosoph Descartes keinen Wanderführer geschrieben. Das Ganze ist nur ein Bild. Es geht um die Herausforderung des moralischen Handelns unter Unsicherheitsbedingungen. Die Gerade ist zwar immer die kürzeste Entfernung, aber einfach ist dieser Weg nicht. In der freien Natur draußen ist es wahrscheinlich schlauer, immer bergab zu laufen; da stehen die Chancen gut auf einen Wasserlauf und auf eine menschliche Ansiedlung zu treffen.

Der deutsche Aufklärer Theodor Gottlieb von Hippel d. Ä. hat gemeint: »Wenn du den Weg nicht kennst, nimm einen Wegweiser« (in: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie, 1781). Das klingt vernünftig, aber abgesehen davon, dass es in der Wildnis keine Wegweiser gibt, ging es Descartes nicht darum, wie man zu einem Ratschlag von höherer Autorität kommt, sondern wie man vorgeht, wenn man ganz auf die eigenen Kräfte vertraut.

 

Leider haben wir inzwischen mit wissenschaftlich kontrollierten Experimenten festgestellt, dass Menschen ohne Orientierungshilfe schlicht im Kreis laufen, wenn sie versuchen, eine Richtung einzuhalten. Wir gehen mit verbundenen Augen höchstens 20 Meter geradeaus, danach verliert sich unsere Spur in einer zufälligen Bahn. Warum bewegen wir uns in unbekanntem Gelände ohne Orientierungshilfen so unbeholfen? Weil der Richtungssinn mit Hilfe von Sinneseindrücken wie dem Sonnenlicht und dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr immer wieder neu kalibriert und mit der Umgebung abgeglichen werden muss.

Mit verbundenen Augen schlagen wir, in der Überzeugung geradeaus zu gehen, einmal links, das andere Mal rechts eine kreisförmige Bewegung ein. Das schöne Geradeaus des Herrn Descartes ist auf der Kugeloberfläche irgendwie illusorisch; jede Gerade auf der Erde entpuppt sich am Ende nur als Teil einer Kreislinie. Wenn ein Steinzeitkind grosse Kreise lief, hatte es eine höhere Chance, nicht verloren zu gehen, als ein anderes Steinzeitkind, das sich schnurgerade von der Gruppe entfernte.

Im Kreis laufen – genau das ist das Prinzip Leitners. Er formuliert seine Zeitvorstellung in einem chinesischen Sprichwort: »Wenn du es eilig hast, nimmt einen Umweg«. Topologisch bewegt er bei seinen Fotorundgängen radiär von einem Zentrum weg in fremdes Territorium hinein. Er zieht immer weitere Kreise um sein Hotel, beobachtet den Sonnenstand, und kehrt später gelegentlich wegen besserer Schattenverhältnisse noch einmal an einen passierten Fleck zurück.

Leitners Ordnungsphilosophie sagt: Wir sind in alle Richtungen unterwegs, wir nehmen den Raum oft in kürzen Abständen hintereinander metrisch, perspektivisch und taktil wahr, aber das macht nichts. Wir bleiben doch auf gewisse Weise in einem uns alle umschliessenden Raum miteinander verbunden. Der entscheidende Impuls seiner Kunst geht von der Ahnung aus, dass immer mehr als ein Weg, mehr als eine Beschreibung, mehr als ein Wegweiser, mehr als eine Methode zum eigentlichen Ziel des Lebens führen kann.

© Wolfgang Koch 2020, Fotos: Marika Rakoczy

Ausstellungseröffnung von PRIVATE VIEWING 07

samstag 29. 08. 2020 von 15:00 bis 19:00

 

studio kleinlercher/kosai

gebrüder lang-gasse 14

1150 wien

 

ausstellungsdauer 30.08. bis 06.09.2020

nur nach voranmeldung

0660 7388015

tokyo@kuspace.org

www.toni-kleinlercher.com

 

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