vonWolfgang Koch 28.08.2020

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Die aktuelle Ausstellungswand im Studio Kleinlercher ist eine Zeitkapsel, ein multimediales Dokument von Leitners Tätigkeiten, ein gefrorenes Bild seines Lebens im Verlauf des Erwachsenseins. Wie komplett das Bild ist, darauf kommt es nicht an: kein Bild ist ja jemals vollständig. Der Anthropologe Claude Levi-Strauss hat einmal gesagt: »Wenig Geschichte ist besser als gar keine«.

Die ganze Installation muss als eine Art Zeitkarte gelesen werden, auf der die Bewegungen eines menschlichen Wesens auf dem Planeten Erde in den Jahrzehnten rund um das Millennium verzeichnet sind. Was dieser Mensch ersehnt, studiert und dokumentiert hat, wie er die Kontinente bereist hat, was er auf den Strassen und in den Hotelzimmern vorgefunden hat, das schenkt den Forschern im Jahr 2298 zwar noch nicht ausreichend Material, um unsere Zivilisation gedanklich in ihrer ganzen Breite zu rekonstruieren. Aber die Forscher der Zukunft dürften beim Anblick von Leitners Wand ahnen, dass auf ihr Momente notiert sind, die Emotionswogen und Ereignisse festhalten, die ihnen selbst gar nicht mehr bekannt sind.

Leitner nennt seine Installation: »Ach, was ich sah, fotografierte, fand, notierte und collagierte«. – Achten Sie auf die Reihenfolge der Worte. Zuerst agiert das kalte Auge, dann arbeitet die sachliche Hand. Zuerst macht sich Leitner ein Bild im Kopf, dann in der Kamera, dann bückt er sich und liest Fundstücke vom Boden auf, er notiert Ort und Datum, am Ende setzt er mit viel Erfahrung Fotoabzug, Papierabfall und Paratext zu einem Memorial-Image zusammen, das an der Wand hängen oder in einer Vitrine liegen kann.

Bildermacher*innen sind Fetischist*innen; Leitner erhebt seine in der äusseren Welt erspürten inneren Bilder professionell zu Fetischen. Er beruft sich nicht auf die Unschuld des Fiktiven, das erscheint ihm unmöglich. Das Kriterium seines autobiografischen Fotografierens, des fetischistischen Sammelns und des nostalgischen Studierens ist die Signifikanz der Objekte. Kann das gelingen? – Durchaus; es gelingt prächtig. Im Spiel der Kunst wird ja grundsätzlich nie etwas statisch festgehalten. Leitner legt sein Weltgemälde vollkommen unsensationell an, mittels eines quasi tautologischen Verfahrens, damit er der Präsenz der Dinge auf eine Weise nahekommt, in der sich die Frage nach Wahrheit oder Wirklichkeit von selbst aufhebt.

Die Installation besteht aus 25 Exponaten. Links oben die Collage Blue Moon (2016), zentral eine Weltkarte, die schon in Leitners Jugendzimmer baumelte, rechts oben Zeitungsseiten des Daily Telegraph mit Berichten über die Mondlandung 1969, dann noch weitere Karten, ein Verbotsschild aus London (»Do not cross«), ein Südamerika-Guide (1980) sowie diverse Fund- und Erinnerungstrophäen: ein Teppichklopfer, ein Spiegel, die Halterung einer Vorhangstange, das Express-Dampfstrahlgerät der Grossmutter mit der originalen Gebrauchsanweisung. Das Bügeleisen kostete 1954 umgerechnet 18 Euro, auf der Bügelsohle sind gut die drei Dampfaugen zu erkennen. Wir sehen von Leitners handwerklich geschicktem Vater gefertigte Rindertrophäen, einen Regenschirmständer, einen Souvenir-Elefanten aus Kalkutta, von wo der Künstler ein weiteres Mal als unbeugsamer Atheist heimgekehrt ist.

Als Modell für seine Installation dient dem Künstler eine SW-Fotografie. Sie zeigt den Salon eines Pariser Kunsthändlers, in dem u.a. das Gemälde »Fête des fleurs« von Henri Matisse (1923) an der Wand hängt. Was bitte hat der Blumenkorso von Nizza in einem bürgerlichen Repräsentationsraum mit Kuhhörnern auf der Wand in eines Wiener Zinshauses zu tun? – Nun, Leitner denkt wie die Juden am Friedhof. Bei ihm steht immer die Nostalgie-These im Raum, dass das Erinnerte das Gelebte ist.

In Zeitkapseln werden Dokumente, Artefakte und Fundgegenstände mit grosser Sorgfalt zur Aufbewahrung vorbereitet, sie werden in Gewölben vergraben, in Tempeln, Museen und Bibliotheken verwahrt; wir erhalten das Interieur von Wohnhäusern im Originalzustand. Früher legte man Gerätschaften den Gräbern bei. Oder ein Vulkan bricht aus und fixiert das Leben einer Stadt in Sekundenschnelle im Stillstand. – Egal, ob es sich um Absicht oder ein Zufallsereignis handelt: das Schicksal spielt seine Rolle, und die Gegenwart erhält Signale für die gedankliche Rekonstruktion der Vergangenheit. Die Finder*innen einer Zeitkapsel erkennen Vertrautes wieder oder sind überrascht von dem Fremdartigen, sie staunen über das handwerkliche Können, das die Kostbarkeiten schuf und sehen verwundert Dinge, die früher einmal ganz alltäglich waren.

Jede Kultur hinterlässt so ihre Botschaft für eine Zukunft. Und es gibt viele Zukünfte – ihre Zahl gleich der der Vergangenheiten. Im Fall von Leitner ist unsere Gegenwart die erste der Zukünfte, an die er sich richtet. Man könnte auch sagen, er informiert uns darüber, wie er die anderen Zukünfte zu unterrichten gedenkt.

Im Weltall ist heute bekanntlich eine Menge los. Satelittenbetreiber müssen inzwischen den erdnahen Orbit systematisch beobachten lassen, um Kollisionen mit Weltraumschrott zu vermeiden. Leitners Zeitkapsel schwirrt gefahrlos umher, weil sie in der völkerrechtlich geschützten Umlaufbahn der Kunst unterwegs ist. Ich denke, dass seine Zeitkapsel keinen präzisen Aufschluss über die Hauptanliegen und Denkweisen unserer Tage geben kann, sie erteilt höchstens Auskünfte über seine urpersönlichen Anliegen in den Minuten seines ureigenen Lebens. Leitner bietet einen unfertigen, lückenhaften, einen flüchtigen Blick auf das, was sich über ein paar Jahrzehnte in seinem inneren Salon zugetragen hat. Jung und cool erzählt er vom Abstand zwischen dem Geplanten und dem Erreichten.

Das soll bedeuten, dass wir bis zur Bahre immer jung bleiben, unmittelbar, grün hinter den Ohren. Jeder Tag ist der letzte Tag oder der erste, Anfang und Ende. Unsere Gegenwart war gerade noch eine Zukunft und wird in ständig erneuerter Spontanität zur Vergangenheit. Unsere Absichten können jederzeit und an jedem Ort durch tatsächliche Ereignisse beiseite geschoben werden.

Ich rate Ihnen, die Installation ohne den Künstler zu besichtigen. Wenn Sie sich mit ihm vor die Wand stellen, schwatzt er Sie eine gefühlte Stunde lang mit Geschichten zur Herkunft der Objekte zu. Wann und wo er den Teppichklopfer benutzt hat, wie man mit einem Reiseführer reist, wie er sich in der Tropensonne anfühlte, was er vor und was er nach der Mondlandung gegessen hat, usw. Leitner will sicher nichts Unlauteres. Er will es nur richtig machen. Doch seine Beschreibungen führten die Betrachter*innen verlässlich auf den Marktplatz einer Existenz, die sich aus einer einzigen Kette von Minidramen, Fehldeutungen und Irrläufen zusammensetzt.

Denn Leitner sieht sich am liebsten selbst zu, er weidet sich geradezu an dem künstlerischen Selbstverständnis, das er im Begriff ist in seiner ganzen Komik auszuloten. Die Objekte sind für ihn der Anlass zum Erzählen von Anekdoten; umständlich, aber ohne Zögern füllt er den Denkbezirk des Schauens und Verstehens auf mit seine Biographie, das heisst mit Belehrungen und Zurechtrückungen seiner Zuhöre*innen. Er modelliert sich so tief wie möglich hinein in etwas, in dem er ohnehin schon überdeutlich präsent ist.

Es ist klüger, die Installation ohne das allzu menschliche Hintergrundwissen auf sich wirken zu lassen. Dann beginnt das Gezeigte von sich aus zu erzählen, dann stellen sinnesphysiologische Wahrnehmungen und emotionale Empfindungen kulturpo­ëtische Intensitätsbeziehungen zur eigenen Person her.

© Wolfgang Koch 2020, Fotos: Marika Rakoczy

Ausstellungseröffnung von PRIVATE VIEWING 07

samstag 29. 08. 2020 von 15:00 bis 19:00

 

studio kleinlercher/kosai

gebrüder lang-gasse 14

1150 wien

 

ausstellungsdauer 30.08. bis 06.09.2020

nur nach voranmeldung

0660 7388015

tokyo@kuspace.org

www.toni-kleinlercher.com

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